Die Insel der Verlorenen - Roman
alle am Strand zusammen. Als sie kamen, sahen sie, dass Tirsa zwei Küchenmesser dabeihatte und sie gerade an einem Stein wetzte.
»Wollen wir das Ungeheuer, das wir gestern gesehen haben, denn erlegen?«, fragten sie.
»Nein, wir werden kein Ungeheuer erlegen. Wir werden uns die Haare schneiden«, erklärte Alicia, »weil sie uns beim Arbeiten im Weg sind. Außerdem können wir sie nicht mehr richtig pflegen und haben inzwischen Zotteln auf dem Kopf, dass es zum Fürchten ist. Wir haben das schon oft besprochen. Es ist seit langem beschlossene Sache und jetzt ist der Moment gekommen, es auch zu tun. Wer macht freiwillig den Anfang?«
Erst kam Rosalía dran, dann Benita und Francisca. Alicia und Tirsa ergriffen die langen Strähnen und säbelten sie direkt unter den Ohren ab, dann warfen sie alles auf einen Haufen, der aussah wie ein schlafendes Felltier. Anschließend schnitt Alicia Tirsa die Haare ab und Tirsa Alicia. Jemand holte die Spiegelscherbe, sie betrachteten sich darin mit ihren kurzen Haaren und lachten.
»Zeig mal, wie du aussiehst?«, sagte Francisca zu Benita. »Wetten, du findest so keinen Mann mehr!«
»Was sollte ich denn hier für einen Mann finden? Das Ungeheuer vom Riff vielleicht?«
»Ich warte, bis dieser Junge groß ist, dann werde ich ihn heiraten«, sagte Rosalía, hob Ramoncito in die Luft und drückte ihm dabei schmatzende Küsse ins Gesicht. »Und bis er groß ist, sind meine Haare auch wieder lang.«
»Jetzt sind wir alle kahl«, sagte Alicia. »Alta, du fehlst noch.«
»Ich nicht, Señora, ich schneide sie mir nicht ab.«
»Na, komm schon, du isst nicht genug für dich und deine Haare.«
»Nein, Señora, ich kann nicht … weil sie dem Deutschen gefallen.«
»Meinetwegen. Die Kleine ist vor Liebe ganz närrisch.«
Die Kinder kamen mit der zerlumpten und zerschundenen Porzellanpuppe angelaufen.
»Alta! Altita! Mach ihr eine echte Perücke, bitte«, bettelten die Mädchen, »sie will nicht mehr so kahlköpfig herumlaufen.«
»Kahlköpfig, einarmig und halb blind … bei der Ärmsten ist Hopfen und Malz verloren«, sagte Alta und suchte die schönste Haarsträhne aus dem Haufen, um ihr eine Perücke zu basteln.
Am Nachmittag verließ Benita die Gruppe, um den Fisch in Salzlake einzulegen. Keuchend und mit hochrotem Kopf kam sie zurückgerannt.
»Señora«, sagte sie atemlos zu Alicia, »das Ungeheuer ist wieder da. Es … es ist Victoriano Álvarez.«
»Was sagst du da? Victoriano Álvarez ist seit Monaten tot.«
»Nein, Señora, er ist nicht tot.«
»Aber, was erzählst du denn da, er ist an Skorbut eingegangen.«
»Er ist nicht eingegangen. Die Seuche hat ihn entstellt, aber nicht umgebracht.«
»Das wird wieder eine von den Erscheinungen sein. Hast du ihn angefasst?«
»Er hat mich angefasst … er hat mich angefasst … «
Benita erzählte, dass sie dabei war, den Fisch in Scheiben zu schneiden und von den Gräten zu befreien, als sie einen widerlichen Geruch wahrnahm. Sie dachte, dass er vielleicht aus der Lagune aufstieg, oder dass irgendwo noch eine Leiche läge, die sie nicht begraben hatten. Das Ungeheuer hatte sich ihr lautlos von hinten genähert. Als sie es bemerkte, machte sie einen Satz und schrie, und da sagte er, sie solle sich nicht erschrecken, er wäre Victoriano.
»Victoriano Álvarez? Bist du tot?«, hatte Benita darauf kaum vernehmbar gefragt.
»Ich war fast tot, aber ich bin ohne fremde Hilfe wiederauferstanden.«
Sie betrachtete das Wesen aus dem Jenseits, das da vor ihr stand, und entdeckte eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Leuchtturmwärter, dem strammen, aufrechten Schwarzen aus anderen Zeiten. Seine Beine waren jetzt gekrümmt und übersät mit Furunkeln, um sich darauf halten zu können, stützte er sich auf einen Stock. Seine Haut war fleckig wie bei einer Hyäne, das Haarbüschel über der Stirn leuchtete feuerrot, und am Rückgrat wuchsen ihm steife, gedrehte Locken wie Korkenzieher. Die Augen traten ihm aus den Höhlen wie einem Frosch und das Zahnfleisch war gewuchert und zahnlos.
»Warum bist du so hässlich, Victoriano?«, fragte Benita ihn.
»Die Krankheit und der Hunger haben mich so
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