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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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gekommen, vielleicht weil sie bisher nicht wirklich Ernst machen wollte. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie sich alle an den Händen hielten und zusammen ins Leere sprangen, unbewusst, eingeschläfert, lebensmüde, resigniert, sich zahm dem Tod in die Arme warfen. Aber die Geschöpfe um sie herum waren putzmunter, sie spielten und hüpften und waren das Leben selbst, an das sie sich mit einer allmächtigen, unerschütterlichen Energie klammerten. »Verzeih mir, mein Gott, dass ich auf die absurde Idee einer so grausamen Tat verfallen bin. Was ich tun muss, ist den Schwarzen umbringen.« Bei dem Gedanken empfand sie Stärke und Entschlossenheit. Sie hatte Ramóns Säbel versteckt. Sie würde es tun. Tirsa und sie würden den Schwarzen umbringen. Würden sie es schaffen? Würde ihnen der alte, verrostete Säbel überhaupt etwas nützen? Nein, sie würden es nicht schaffen. Das Wahrscheinlichste war, dass der Schwarze sie zuerst umbrächte, und ihm dann die Kinder wehrlos in die Hände fielen. Es gibt keinen anderen Ausweg, dachte sie. Es gibt kein Zurück.
    Die Übermacht ihres Schmerzes überraschte sie. Obwohl sie im Grunde ihres Herzens wusste oder zu wissen meinte, dass sie auch diesmal nicht springen würde, litt sie die gleichen Qualen, als täte sie es. Sie hatte geglaubt, allen Schmerz, den ein Mensch zu verkraften imstande ist, erlebt zu haben, von vorne bis hinten und wieder zurück durchgemacht zu haben, sie hatte geglaubt, ihn als ein vertrautes Terrain zu kennen. Aber der Schmerz, den sie jetzt empfand, war hundert-, war tausendmal schlimmer als jeder vorangegangene Schmerz. Und sie war regelrecht erschrocken über das Ausmaß des Kummers, den ihr Herz zu tragen vermochte, ohne zu zerbrechen.
    Die Kinder fanden das Loch ins Innere des Felsens, wo vor Jahren Ramón und seine Männer mit ihnen auf der Suche nach dem Schatz eingestiegen waren.
    »Guck mal, Mama, wie viele Fledermäuse!«
    »Komm, Mama, iiii, die Kröten!«
    »Mama, hilf mir, ich will eine fangen, Mama.«
    Da begriff Alicia schlagartig, dass ihre Kinder glücklich waren.
    Sie hatte sie oftmals das Gleiche tun sehen, das Gleiche sagen, das Gleiche spielen, ohne es richtig wahrzunehmen. Jetzt fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: All die Jahre, die für sie eine Tragödie gewesen waren, für die Kinder waren sie einfach nur das Leben. Sie kannten kein anderes, konnten keine Vergleiche anstellen, sie vermissten nichts. Und wie die anderen Male kam sie auch diesmal zu dem Schluss, dass sie den Felsen zu Fuß verlassen würde, mit ihren Kindern nach Hause gehen und sich solche aberwitzigen Lösungen aus dem Kopf schlagen sollte. Wie könnte sie ihre Kinder töten, wenn weder der Hunger noch Victoriano es geschafft hatten? Unmöglich. Absurd. Entsetzlich. Sie würde es nicht tun. Nichts konnte sie dazu bringen. Der Schmerz ließ allmählich nach, sie bekam wieder Luft und wurde von einer unerwarteten Liebe zum Leben regelrecht überschwemmt, es machte sie glücklich, die Kinder am Leben zu sehen, trotz allem.
    Um ein Haar hätte sie, wie die anderen Male auch, gesagt: »Kommt, wir gehen, Kinder, der Spaziergang ist zu Ende.« Aber im letzten Moment fiel ihr ein, dass sie schon seit drei Jahren mutterseelenallein auf dieser Insel ausgesetzt waren, ohne Hilfe und ohne Hoffnung. Die nächsten drei Jahre würden genauso sein und dann noch drei waren neun und drei zwölf und drei fünfzehn. Die Worte blieben ihr im Hals stecken und sie sagte nichts. Dann doch lieber gleich springen.
    Sie war fest entschlossen, sah in den Abgrund hinunter, schaute die Kinder an, bereute, umarmte sie, war dann wieder fest entschlossen, quälte sich mit Zweifeln, verlor den Mut. Die Sonne hatte den Zenit noch nicht überschritten, während ein grünlicher Nebel das Meer überzog.
    Hinter dem Nebel sah Alicia am Horizont etwas schimmern. Ein Funkeln von bewegten, glitzernden Punkten, die auf- und abflackerten, an- und ausgingen, jetzt da waren, dann wieder weg. Wie in ihrer Kindheit in Orizaba, wenn sie aus dem Fenster schaute und am Himmel, sehr hoch und sehr fern das Feuerwerk sah, mit dem das Nachbardorf den Namenstag seines Schutzpatrons feierte. Aber hier waren die Explosionen unten, direkt über dem Wasser.
    »Das hat mir gerade noch gefehlt«, sagte sie. »Ein Geisterschiff … «
    Ihr wurde schwindelig, Schauer überliefen sie von oben bis unten.
    »Ach, Ramón, tu mir das nicht an. Schick mir nicht noch Visionen, deine ist uns zu teuer zu stehen gekommen.«
    Sie

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