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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Suppe gegessen hatte und sich daraufhin zweiundsiebzig Stunden lang übergeben musste. Er ging auf sie los und verprügelte sie alle, zog sie an den Haaren, nahm ihnen die Karabiner, die Pistolen, die Werkzeuge und sogar die Küchenmesser ab, damit sie sie nicht gegen ihn verwenden konnten.
    »Ihr wolltet mich also umbringen, ihr Huren. Ihr habt wohl nicht gewusst, dass ich euch töten werde, nicht umgekehrt, und eure Töchter behalte ich, die sind wenigstens noch schön zart, und denen werde ich von klein an beibringen, mich zu lieben und mich nicht hinterhältig reinzulegen.«
    EinesTagesstandAliciaaufundwarentschlossen.SeitVictorianoihreMädchenbedrohthatte,ließihrdaskeineRuhemehr.SiemussteihrePflichterfüllen,selbstwenndiesedarinbestehensollte,eineschrecklicheTatzubegehen.AmMorgengabsieihrenKindernzufrühstücken.DannbandsiesichÁngelimTuchaufdenRücken,wieesihrdieIndiosbeigebrachthatten,nahmRamónandieHandundriefAliciaundOlga.
    »Wohin gehen wir, Mama?«
    »Zum Südfelsen.«
    Die Kinder waren begeistert, denn sie erinnerten sich an die Zeit, als ihr Vater mit ihnen Ausflüge dorthin unternommen hatte. Zwar machte ihre Mama das jetzt auch öfter, aber es war nicht dasselbe. Sie stiegen dann bis zur Felsenkuppe hinauf und dort stellte sie sich, ohne ein Wort, an den Rand des Abgrunds. Sie zeigte ihnen weder die Sterne, wie ihr Papa, noch erzählte sie ihnen, in welche Himmelsrichtung die Winde bliesen. Sie schwieg in Gedanken versunken, während sie spielten. Bis sie plötzlich sagte: »Kommt, Kinder, lasst uns gehen, der Spaziergang ist zu Ende«, da half alles Betteln nichts, dass sie noch ein Weilchen blieben, und auch nicht der Vorschlag, mal wieder durch das Loch in den Felsen hineinzuklettern. Aber das machte nichts: sie waren auch so glücklich.
    Die kleinen Mädchen liefen voraus, und Alicia musste sich beeilen, um mit ihnen Schritt zu halten. Kurz nach Sonnenaufgang waren sie an der Höhle, da ermahnte sie die Kinder, wie immer, leise zu sein, um Victoriano nicht zu wecken, und geduckt an seiner Höhle vorbeizuschleichen, damit er sie nicht bemerkte, wenn er die Augen öffnete. Sie gehorchten amüsiert, nervös, mit leuchtenden Augen und unterdrückten mit einer Hand vor dem Mund das Lachen.
    Alicia kletterte mit dem Baby auf dem Rücken die Steigung hinauf, aber das wog so wenig, dass sie den Unterschied nicht wahrnahm. Ihr Ältester führte sie, sagte ihr, wo sie den Fuß hinsetzen sollte. Sie bebte, entschlossen zu tun, was sie andere Male nicht zu tun gewagt hatte. Diesmal war es so weit, denn ihr lief die Zeit weg. Jetzt oder nie. Danach würde es zu spät sein.
    Die Mädchen kletterten barfuß den steilen Felsen hinauf, fanden Halt in Ritzen und Vorsprüngen, dunkelbraun und nackt, geschickt und flink wie die Affen.
    Als sie den Gipfel erreichten, schaute Alicia nach unten und ihr stockte das Herz. Es ist entsetzlich und es ist Wahnsinn, dachte sie. Sie hatte schon häufig da gestanden, die Szene im Geiste durchgespielt und eingeübt, um im gegebenen Moment nicht zu versagen. Nacht für Nacht hatte sie sich auf den Augenblick vorbereitet. Aber jetzt, da er gekommen war, endgültig, und es kein Zurück gab, war er anders, als von den finstersten Flügen ihrer Fantasie ausgemalt. Der Felsen war feindseliger, unbarmherziger, als sie gedacht hatte. Die Höhe, die ihr aus der Entfernung überwindbar erschienen war, klaffte unter ihr wie ein schwarzes Maul, und ihr war klar, dass sie unterwegs aufschlagen würden, sich tödlich verletzten, ehe sie das Wasser erreichten. Sie würden nicht auf der Stelle tot sein, wie ihr Plan es vorsah, sondern langsam im Nebel hinabsegeln, so dass die Kinder genügend Zeit hätten, nachzudenken und das Vorhaben zu durchschauen, in Panik zu geraten und nach ihr zu schreien, sie um Hilfe anzuflehen und ihr bis in alle Ewigkeit nicht mehr zu vergeben. »Nein, auch diesmal werden wir dorthin zurückgehen, wo wir hergekommen sind«, sagte Alicia, aber dann fiel ihr Victoriano ein. Und seine Drohung, sie zu töten und die Kinder zu vergewaltigen. Was war, wenn er sich an den Kleinen verging, wenn er sie misshandelte, könnte sie sich das je vergeben? Könnte Ramón ihr das vergeben? »Ich stürze mich mit den Kindern ins Meer, ich habe keine andere Wahl.«
    Dann wurde ihr jedoch klar, dass die nicht still dastehen und warten würden, bis sie ihnen den Schubs gab. Sie würden herumlaufen, weglaufen, sich wehren, und sie würde sie jagen müssen. Darauf war sie noch gar nicht

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