Die Insel der Verlorenen - Roman
ausgestellt.
»WiekönnteichnichtdarüberBescheidwissen,ich,dieichdasLebenmeinerGroßmutterMillimeterfürMillimeterkenne,in-undauswendig,weilichallesmitihrenAugensehe.WollenSienochmehrüberdasKleidwissen?EsstammtevondenSeñoresChabrand,denInhaberndesvornehmstenKonfektionsgeschäftsvonOrizaba,LasFábricasdeFrancia,dietelegrafiertennachParisundhabenesdortbestellt.AlsichJahrespäterselbstso weitwar,dassichheiratenwollte – meinMannistWasserbauingenieur – ,habeichverkündet,ichwolltedasBrautkleidmeinerGroßmutterAliciaanziehen.Dassichwohlspinnenwürde,sagtendaalle,eswürdemirbestimmtnichtpassen,schließlichseisienocheinKindgewesen,alssiedieEheschloss,aberichbinhartnäckiggebliebenundhabeesausderTruhegeholt,woesmitMottenpulveraufbewahrtwurde.BiszumletztenMomenthießes,versteifdichnichtdarauf,duwirstnichthineinpassen,aber,Siewerdenesnichtglauben,essaßwieangegossen.WirhattenalsjungeFrauenhaargenaudiegleicheGröße,dasgleicheGesichtunddiegleicheFigur,sieundich!«,behauptetdieEnkelinimWohnzimmerihresHausesdesStadtviertelsSanÁngelvonMexiko-City,wosieineinemwuchtigenHolzsessel immexikanischenKolonialstilsitzt.IhrweißesHaar,demeinFriseurbesuchunlängstanzumerkenist,rahmtdasPuppengesicht:perfekteZüge,imKinneinkleinesGrübchen,dieHauttrotzihrerfünfzigJahrestrahlend.
»Meine ganze Familie ist sich einig, dass ich meiner Großmutter aufs Haar gleiche. Sogar Sie, die mich nicht kennen und nichts von uns wissen, haben mich ein paar Mal Alicia genannt, obwohl ich María Teresa heiße. Es stimmt, dass sie eine ganze Weile vor meiner Geburt gestorben ist, aber trotzdem besteht zwischen uns eine tiefe Verbindung, wider alle Vernunft. Ich kann nicht zulassen, dass sie in Vergessenheit gerät. Sie hat unglaubliche Opfer gebracht und ihre Tapferkeit war sprichwörtlich, aber davon will heute keiner mehr was wissen.«
Durch die großen Panoramafenster ihres Hauses blickt man in einen akkurat gepflegten Garten. In der Mitte des Wohnzimmers steht auf einem Tisch eine Keramikvase aus Talavera, geschmückt mit fünf schwarzen Federn. Daneben eine kleine Glasschatulle mit mehreren Schneckenhäusern.
»Die Federn stammen von Vögeln aus Clipperton und die Schnecken sind von den Stränden in Clipperton. Sie staunen? Mein Haus ist ein Tempel der Insel. Jahrelang habe ich die Zeitungsartikel aus der ganzen Welt über das Thema ausgeschnitten und archiviert. Ich bewahre die Briefe meines Großvaters und die Kleider meiner Großmutter auf. Ich habe hier Proben von Clippertons Erde und dem Lagunenwasser, ich bin nämlich von Beruf Chemikerin, müssen Sie wissen. Die habe ich mir mitbringen lassen, weil ich ja selbst nie dort gewesen bin. Seit ich das Buch über die Insel geschrieben habe, weiß ich, dass das meine Lebensaufgabe ist; meine Mission hier auf Erden besteht darin, diese Geschichte, die ja meine eigene ist, bekannt zu machen. Das Buch ist im Selbstverlag erschienen, ich verkaufe es privat, hier und im Büro meines Mannes, der, wie gesagt, Wasserbauingenieur ist. Außerdem halte ich einmal die Woche Vorträge über Clipperton. Die werden von der Marine veranstaltet, da habe ich Freunde. Bei jedem Vortrag verausgabe ich mich psychisch und emotional völlig, weil ich die Tragödie beim Erzählen noch einmal miterlebe, ich mache alles am eigenen Leib durch. Wenn ich dann nach Hause komme, wiege ich ein bis zwei Kilo weniger und muss für ein paar Tage das Bett hüten, um mich von der Strapaze zu erholen.«
In diesem Augenblick kommt ihr Mann die Treppe herunter. Er ist klein, Brillenträger, hat einen Trenchcoat über dem Arm. Er ist auf dem Weg ins Büro, grüßt höflich und wirft seiner Frau einen nicht nur zärtlichen, sondern bewundernden Blick zu. Dann geht er.
»Haben Sie gesehen, wie er mich ansieht? Er unterstützt mich in allem, er hat mein Buch unter die Leute gebracht, nur manchmal, da macht er sich Sorgen und denkt, ich ginge zu weit. Komm wieder auf den Teppich, Frau, sagt er dann zu mir, komm zurück in die Realität. In solchen Situationen erkläre ich ihm, dass das nicht meine Realität ist, dass mein Leben nicht hier stattfindet, sondern in Clipperton, weil ich für die Insel lebe und sterbe.«
María Teresa geht in die Küche, den Kaffee holen. An der Esszimmerwand hängt ein großes Bild von ihr: Die Hände im Schoß gefaltet, sitzt sie in einem trägerlosen weißen Musselinkleid mit ebenso weißen Schultern da und schaut den Betrachter frontal an ohne Lächeln. Auf einer Mahagonianrichte steht das Foto ihrer
Weitere Kostenlose Bücher