Die Insel der Verlorenen - Roman
seit ihrer Jugend befreundet, trotzdem hatten sie nie Gelegenheit gehabt, allein zu sein, zu reden, bis ihnen die Themen ausgingen, sich zu berühren, sich näherzukommen, die seelischen Schlupfwinkel und Stolpersteine im anderen zu erkunden. In den letzten sieben Jahren war Ramón weg gewesen, seinen Pflichten beim Militär nachgegangen. Er hatte ein- bis zweimal im Jahr Heimaturlaub gehabt, und diese Besuche in Orizaba, die von wenigen Tagen bis zu mehreren Wochen dauerten, genutzt, um all die aufgeschobenen Siestas nachzuholen, sich von seiner Mama verköstigen und verwöhnen zu lassen, und seiner Braut den Hof zu machen.
Eine Verlobungszeit in Orizaba – diesem spießigen, bigotten Pflaster mit seiner Verklemmtheit und seinem Gerede – bedeutete nicht viel mehr als Mahlzeiten in der Familie, Rosensträuße, Kricketpartien, Handküsse und Spaziergänge auf der Alameda. Es gibt ein Zeugnis darüber, dass die beiden Verliebten, nachdem sie ihre Verbindung bekannt gegeben und damit offiziell gemacht hatten, anfingen, untergehakt in der Stadt spazieren zu gehen. Das steht in den unveröffentlichten Erinnerungen eines Landsmanns und Freundes von Alicias Familie, Don Antonio Díaz Meléndez, mit dem Titel Orizaba de mis recuerdos .
Es versteht sich von selbst, dass die mit Unrat überhäuften Straßen und die darin wühlenden Schweine dort ebenso wenig Erwähnung finden, wie die düsteren Sakristeien, in denen Priester Epileptikern mit Schlägen den Teufel austreiben wollten, oder die Straßenecken der Innenstadt, an denen die Armen ihre Notdurft verrichteten. Dafür wird – mit Wehmut – von Orizabas einstigen Reizen erzählt, den gepflegten Grünanlagen und den Bäumen an der Alameda, von Springbrunnen, von vornehmen Familien, die sich sonntags, nach der Elf-Uhr-Messe, beim Pavillon auf dem Marktplatz ein Stelldichein gaben und dem von der städtischen Militärkapelle angestimmten Walzer Sobre las olas – Auf den Wellen – lauschten. Don Antonio berichtet, eines Sonntags sei während des Blaskonzertes, mitten im friedlichen Kommen und Gehen, ein bildhübsches Mädchen auf ihn zugesteuert, »in einem eleganten Hut, mit glänzenden lackledernen Stiefeletten an den Füßen und einem angedeuteten Ausschnitt, wie es die damalige Mode vorgab. Das war Señorita Alicia Rovira, am Arm eines stattlichen Soldaten, den sie mir als ihren Verlobten vorstellte. Bei dieser Gelegenheit bekam ich Hauptmann Arnaud zum ersten und letzten Mal zu Gesicht und unsere anregende Konversation sowie die Aufmerksamkeiten, die er seiner Verlobten, der reizenden Alicia, zuteil werden ließ, beeindruckten mich auf das Angenehmste.«
Alssieeinmalsounterwegswaren,herausgeputztundadrett,denEltern,denGeschwisternundVettern einpaarSchrittevoraus, blieb Alicia unversehens stehen und sagte zu Ramón:
»Weißt du, was ich mir wünsche? Dass wir eines Tages nicht nur Verliebte und Eheleute sind, sondern auch Freunde werden, du und ich.«
Ramón warf ihr einen überraschten Blick zu. Er hüllte sich in Schweigen und nach einer Weile antwortete er:
»Daswünscheichmirauch.Undwirwerdenessein,wennwiralleineleben.ImMoment,mitalldenZuschauern,schaffenwiresmaleben,dasPaarauseinemLiebesromanzugeben.«
Dann war der Augenblick gekommen, einen Termin für die Hochzeit festzulegen und die Vorbereitungen zu treffen. Ramón war nicht mehr der Sohn aus einer anständigen, aber mittellosen Familie, und auch nicht mehr der Militär, nur entehrt und fahnenflüchtig. Ihm standen eine Laufbahn und eine Zukunft offen – eine merkwürdige und gefährliche zwar, aber immerhin eine Zukunft – , die er seiner Verlobten anbieten konnte, deshalb ging er an einem stürmischen Abend hin und hielt um ihre Hand an. Er kam mit seiner Mutter, Doña Carlota, zum Haus von Alicias Eltern, Félix Rovira und seine Frau Petra, die ihre Gäste mit Sherry und Oliven bewirteten. Don Félix erging sich in überschwänglichen Schmeicheleien und pointierten Witzen, und gab sich hochtrabend und hocherfreut, als er das Glas auf die zukünftige Verbindung erhob. Daher bemerkte niemand seine geschwollenen Lider und die gerötete Nase, die er sich vor dem Eintreffen des Besuchs zugezogen hatte, als er stundenlang die Tür seiner Bibliothek verschlossen hielt und darin seiner Verzweiflung freien Lauf ließ, heulte und in einer wütenden Anwandlung väterlicher Eifersucht einen Gutteil der Encyclopedia Britannica , Band für Band, aus dem Regal riss und auf den Boden schmetterte.
Man
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