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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Loyo.
    PorfirioDíazhatteihmdieMissionpersönlichanvertrautundsichdieMühegemacht,ihndafürzueinerUnterredungindenPalastzubitten.DieReisefand1907,unmittelbarnachArnaudsErnennungzumGouverneurvonClippertonstatt.DamalswurdedieBeziehungzwischenJapanundMexikoenger.InMexiko-StadtkamenJapanlädeninMode,brachdasJudo-Fieberaus,verfasstenDichterOdenüberdenBambusundkauftendieSeñorasSonnenschirmeundFächerausSeide.
    ZujenerZeitwarvielvoneinemGeheimabkommenzwischenMexikoundJapandieRede.Eshieß,Japanwolleden USA denKriegerklären,umsichdieVormachtstellungimPazifikzusichern,undMexikoseiseinVerbündeter.MöglicherweisespielteClippertonwegenseinerLagebeidiesenPläneneineRollealswichtigerstrategischerPunkt.Andererseitsistesgenausodenkbar,dassdasvielzitierteGeheimabkommenzwischenMexikoundJapannureinGerüchtwar.GewissermaßeneinAblenkungsmanöverderdeutschenRegierung,umzweiFliegenmiteinerKlappezuschlagen,indemsieihrebeidenHauptgegner,die USA undJapan,gegeneinanderaufhetzte.DieVerbreitungderGeschichtevonJapanskriegerischemPlan,denPazifikzuübernehmen,schürtediekrankhafteAngstvorder»gelbenGefahr«,unterderdie USA litten.
    SogesehenwäreauchdieseineErklärung:DassArnaudsowenigvonseinerReisesprachundsieinkeinerAufzeichnungerwähnte,hingnichtetwamitdemgeheimenundgewichtigenCharakterihreshistorischenInhaltszusammen,sondernimGegenteil,mitderBanalitätderMission.EskönntezumBeispielsein,dassRamónlediglichinderEigenschaftalsDolmetschernachTokiogereist warundzwarineinerformellendiplomatischenAngelegenheit.Oder,umdemKaiservonJapaneinerlesenesStückSèvres-PorzellanalsGeschenkvonPorfirioDíazzuüberbringen.UnddassClippertonnieeinstrategischwichtigerPunktfürirgendjemandengewesenist,außerfürdieVögel,umihrenGuanodortabzuladen.
    Obwichtigodernichtig,dasPuzzlestückistunwiederbringlichverloren.Niemandweiß,zuwelchemZweckOberleutnantRamónArnaudnachJapanfuhr,außer zu diesem:ErschickteseinerVerlobtenvondorteineKetteausgrauenPerlen.

Orizaba
    – 1908 –
    Am 24. Juni kündigte sich auf dem Kirchenvorplatz ein warmer Tag an und trocknete mit einer neugeborenen Sonne die Pfützen des nächtlichen Regens auf den Steinplatten. Der dampfende Boden, der Frühnebel und die von innen kommenden Weihrauchschwaden gaben der alten Kirchenfassade am Platz einen matten, milchigen Schein mit beweglichen Umrissen.
    UmfünfnachsechsschwebteAliciaimweißenSchaumihresHochzeitskleidesherbei,eineWolkeausTüllhintersichherziehend.SieschrittamArmihresVatersvomEingangsgitterbiszurKirchentürunddannStufefürStufeundSchrittumSchrittzumHauptaltar.DorterwartetesieRamón,imFeststaatseinerGalauniform.Diesolidere,voluminösereGestaltseinerMutterDoñaCarlotanebenihm,ganzinSchwarzgehüllt.
    Alicia war geblendet von all den tausend Lichtern der Kerzen, mit ihren Flämmchen, die sich auf den Vergoldungen der geschnitzten Zedernaltäre vervielfältigten. Die Fülle an Blumen überwältigte sie. Die Heiligen, die Nischen, die Kirchenschiffe und die Seitenaltäre, die Bankabschlüsse, die Kanzel, die ganze Kirche war ein einziges Blumenmeer. Die vollständige Palette von Farben und Gerüchen vereinnahmte die verfügbare Luft. Sie rang nach Atem, ihr schwindelte ein wenig, sie schloss die Augen, sog langsam den Sauerstoff ein, konzentrierte sich auf die Düfte. Trotz des Weihrauchs entdeckte sie die Süße des Jasmins, die saure Beize der Margeriten, den betäubenden Dunst der Gardenien, den heimischen Odem der Rosen und im Hintergrund, kaum spürbar, die giftige Note der Orchideen. Die von all diesen Aromen und Nuancen geschwängerte Luft hüllte sie ein, machte sie benommen, hob sie aus der Wirklichkeit heraus.
    Sie öffnete die Augen und vermochte die verschwommenen Bilder nach einem tiefen Atemzug allmählich klarer zu sehen. Sie fixierte davon aber nur eins, das des Fremden, der steif neben ihr stand. Voller Staunen betrachtete sie ihn, als sähe sie den schmalen Oberlippenbart, die Puppenwimpern, die verwunderten runden Augen, das mit Brillantine disziplinierte und mit einer scharfen Linie in der Mitte gescheitelte Haar zum ersten Mal. Er, Ramón, der Fremde, mit dem sie den Rest ihrer Tage verbringen wollte, drehte sich zu ihr um und lächelte. Auch wenn es auf jenem fremden Antlitz erschien, war das Lächeln warm und vertraut und holte Alicia ins Leben zurück.
    »Ich kenne ihn kaum, aber ich mag ihn«, dachte Alicia, nun nicht mehr nach Atem ringend, sondern damit beschäftigt, den Tüllschleier zu ihren Füßen zu ordnen. Eigentlich kannten sie sich von klein an und waren

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