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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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hier riecht es nach Blut.«
    Auf dem Rückweg erzählte Ramón ihr, was in Orizaba niemand laut auszusprechen wagte. Er ließ sie schwören und dabei das Kreuz küssen, es niemandem weiterzusagen. Denn wenn herauskam, dass er darüber redete, dann würde er aus der Armee fliegen.
    »Vor ein paar Jahren hat es hier einen Streik gegeben, sie haben die Arbeiter einfach erschossen. Ich weiß nicht wie viele, aber es müssen Hunderte gewesen sein. Ein Freund von mir, der bei der ländlichen Gendarmerie war, hat die Leichen gesehen. Sie waren auf zwei Bahnsteigen aufgetürmt, und zwar so viele, dass man sie nicht zählen konnte. Unter den Toten waren Frauen und Kinder, auch einzelne Körperteile, Beine, Arme. Mein Freund hat mir erzählt, dass der Zug nach Veracruz gefahren ist, dass sie die Toten da ins Meer geworfen haben, damit die Haie sie auffressen.«
    Die Nachmittage in Orizaba waren kühler. Dann verflüchtigten sich die Gerüche von draußen, und andere, aus der Küche, durchzogen das ganze Haus. Es roch nach Schokolade mit Zimt und Vanille, während ein feiner, anhaltender Sprühregen fiel, den sie im Dorf chipichipi nannten, dann wurden ihre Mutter und ihre Tanten wehmütig. Alicia saß mit ihnen am langen Tisch im Esszimmer, bröckelte ihr Teilchen in den Kakao und lauschte ihnen. Doña Petra und ihre Schwestern sehnten sich nach vielem zurück, am meisten aber nach dem Tag, als sie den goldenen, in der Mitte gescheitelten Bart von Kaiser Maximilian und die malvenfarbene Seide seiner Gemahlin, der verrückten Kaiserin, in unmittelbarer Nähe hatten vorüberziehen sehen.
    Nach der Schokolade brachen sie zur Prozession auf. Alicia zog gegen den Nieselregen eine schwarze Mantille über den Kopf und ging mit allen Frauen ihrer Familie, einschließlich der Dienstmädchen, die Madonnenfigur der Schmerzensfrau spazieren führen. Sie holten sie aus ihrer Heiligennische in der Kirche Zu-den-zwölf-Jungfrauen, wo sie seit der Kolonialzeit auf ihren Tod zuging, und trugen sie, ausgezehrt und elend wie sie unter ihrem mit barocken Perlen bestickten schwarzen Samtumhang war, durch die Straßen.
    Die Nächte waren von Gespenstern bevölkert. Die Familie im Hause Rovira legte sich zeitig schlafen und hörte sie alsbald vorüberziehen. Pünktlich um Mitternacht stürzte ratternd der Tod mit seiner Pferdekutsche vorbei und holte die Nonne Alférez, eine unselige Ordensfrau, die alle 24 Stunden ihre Strafe für ihre schändlichen Sünden zu Lebzeiten verbüßte. Dann waren aus dem Boden das Laufen und die Wehrufe der mexikanischen Soldaten zu hören, die durch das unterirdische Tunnelsystem der Stadt vor den französischen Truppen flohen. Und durch die Ritzen der Vorhänge lugten aus dem Dunkel die toten Waisenkinder, chaneques genannt, und spionierten mit neugierigen Blicken die beleuchteten Schlafzimmer aus. Mit Öllampen in der Hand standen sie da und kicherten, die bösen Trolle in Kindsgestalt.
    Aber weder das Heulen der Nonne noch das spöttische Treiben der Trolle konnten Alicia schrecken, weil ihr Vater Don Félix Rovira im Elternschlafzimmer auf seiner Seite ein Kinderbett für sie stehen hatte, wo sie Zuflucht fand, wenn sie nachts von Ängsten geplagt wurde.
    »Papa,die chaneques sindgekommenundhabenmichandenHaarengeziept«,beschwertesiesichbeiDonFélix,underbliebwach,bissiewiedereingeschlafenwar.DabeihattesieinWirklichkeitAlbträumegehabtvondersiechenSchmerzensfrauunddenArmenundBeinenderArbeitervonRíoBlanco.
    Drei Stäbchen, eine Luftmasche und zum Abschluss eine Kettmasche: Alicia verbrachte viele Stunden mit ihren beiden Schwestern bei der Filethäkelei von Rosen und Nachtigallen für ihr Kleid. Die drei rückten auf ihren türkischen Hockern ganz dicht zusammen. Sie scherzten über das große Laken mit dem Loch in der Mitte, das sich Alicia in der Hochzeitsnacht überwerfen sollte, damit Ramón sie nicht nackt sähe. Sie kicherten und flüsterten, eine steckte den Finger durch das Loch und berührte damit die Wange der anderen:
    »Cucli, cucli, schau mal wer hinter dir ist!«
    Die drei steckten die Köpfe zusammen und schlugen in verschworener Vertrautheit die Hände vor den Mund, damit ihr Gelächter nicht hinausdrang, wiederholten wie einen Zungenbrecher, was den Bräuten in den Vorbereitungskursen auf die Ehe beigebracht wurde: Das, was wir tun, heiliger Gott, geschieht weder aus Sucht noch aus Unzucht, es geschieht in heiliger Zuflucht zur Zucht einer Leibesfrucht – mal sehen, wer es am schnellsten hinbekam

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