Die Insel der Verlorenen - Roman
Weiße aus den Trümmern aufwirbelnde Staubwolken, die dereinst alles hätten sein können – Hagelschauer aus Reis, Puderzucker von den Kuchen, der Tüll des Brautkleids …
Aber nein. Auch hier scheint ein Irrtum vorzuliegen. Ungeachtet von Don Antonios Schilderungen, ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass das Frühstück damals im Hotel stattgefunden hat. Zumindest behauptet die Enkelin in ihrem Buch, es sei in Alicias Elternhaus gereicht worden.
Wenn man Orizaba kennt, nicht wie es damals war, sondern wie es heute ist, muten Ramón und Alicia unwirklich an und ihre bukolische Brautzeit ist geradezu unvorstellbar. Ich versuche, sie vor meinem geistigen Auge zu sehen, wie sie die mit Autos verstopften und von Abgasen verpesteten Straßen überqueren und auf den inzwischen engen, baumlosen Gehsteigen mit den offenen Abzugsrinnen stehen bleiben, um Freunde zu begrüßen, Bekannten eine Verbeugung oder einen Knicks anzudeuten und Fremden zuzulächeln. Ich würde gerne zusehen, aber es gelingt mir nicht, wie sie Tee trinken, gesittet und andächtig, in der kreischenden Mittelmäßigkeit des kürzlich erbauten Hotels Alvear mit seinen zwei Sternen, der Lobby mit den geschliffenen Spiegeln, den synthetischen Plüschsesseln und dem Schild mit der Formel »Wir akzeptieren Diner’s und American Express«.
Ramón und Alicia, blass und altmodisch, in dieser faden Androhung einer Stadt – dem Orizaba von heute … Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie sie zwischen Autobussen, die über die Avenida Oriente knattern, auf die gegenüberliegende Straßenseite gelangen und den Laden TE - CA entdecken, die »Erste Adresse für Werkzeug« mit der diskreten Statuette im Fenster, gestiftet vor fünf Jahren vom Lions Club.
Der obere Teil der Statuette besteht aus der Bronzebüste eines mexikanischen Offiziers mit preußischem Helm und auf dem Sockel darunter ist eine pathetische Plakette befestigt mit ebenjenem Offizier, diesmal in Ganzaufnahme und mit einer Frau und drei Kindern an der Hand, alle fünf am Ufer eines wütenden, von schweren Gewitterwolken verdüsterten Meeres, barfuß und in zerfetzten Kleidern. Auf einer kleineren, am Fuß des Sockels angebrachten Plakette hätten sie verblüfft ihre eigenen Namen gelesen und durch die Inschrift ihr verhängnisvolles Schicksal erahnt:
Hauptmann Ramón Arnaud Vignon
der in Begleitung seiner Frau, der Heldin
Alicia Rovira, tugendhaftes Vorbild für die
mexikanische Frau, Mexikos Hoheitsrechte auf
der Isla de la Pasión verteidigte, bis er
am 7. Oktober 1914 ums Leben kam.
Clipperton
– 1917 –
H.P. Perril, Kapitän des nordamerikanischen Kanonenboots USS Yorktown , hatte in seinem ganzen Leben noch nichts mit Clipperton zu tun gehabt. Und es verlockte ihn auch nichts, diesen Ort kennen zu lernen. Im Gegenteil, eher weckte er bei ihm ein tiefes Desinteresse, ja, sogar ein vages Unbehagen. Wider Willen sollte die Insel dennoch für ihn bedeutsam werden. Von seinem Flottenstützpunkt in Kalifornien aus gelangte er durch einen Zufall auf die Route, und eine Laune des Schicksals sorgte außerdem dafür, dass er genau im richtigen Augenblick dorthin gelangte. Keine Minute zu früh und keine zu spät.
Er wollte ein eigenes handgeschriebenes Zeugnis jener Geschichte hinterlassen, die er in seinem langen Seemannsleben als einzigartig erachtete, und die, wie er seinen Angehörigen im heimischen Kalifornien schrieb, »Robinson Crusoe am Schiffsmast mitführt«. Damit wollte er sagen, dass sich das Missgeschick des legendären Schiffbrüchigen gegen das, was er die Opfer von Clipperton mit eigenen Augen hatte erleiden sehen, wie ein Vorwort ausnahm.
Als alles vorbei war, setzte sich der Kapitän an seinen Sekretär und widmete die Nacht des 18. Juli 1917 einer genauen Schilderung des Hergangs der soeben erlebten Ereignisse. Ihm war das Los zugefallen, deren Zeuge und Akteur, deren Richter und Teilnehmer zu werden. Er blieb bis zum nächsten Morgen in seiner Kajüte wach und schrieb einen langen Brief an seine Frau Charlotte. Immer wieder legte er Pausen ein und starrte gedankenverloren in die metallische Kälte des im Meer gespiegelten Mondes. Beim Erinnern an den vergangenen Tag musste er seine Erregung zügeln, damit sie seine gemessene, präzise Prosa beim Schreiben nicht überrannte. »Also schön«, wandte er sich an seine Frau, »heute Abend kann ich dir etwas wirklich Interessantes erzählen.«
Vierundzwanzig Stunden vorher hätte er geschworen, dass er von einer
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