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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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langweiligen Strecke wie der, die er gerade in den mexikanischen Gewässern zurücklegte, lediglich ein paar Routineeintragungen im Logbuch hinterlassen würde. Aber dann ereignete sich etwas Eigenartiges. Etwas so Eigenartiges, dass es dem beileibe nicht leicht zu beeindruckenden Kapitän Perril unter die Haut ging, und ihm jetzt die Hand zittern ließ, als er an Charlotte schrieb, »… es ist etwas, woran ich mich erinnern werde, solange ich lebe. Und ich vertraue darauf, es dir so berichten zu können, dass du und die Kinder es ebenfalls zu schätzen wisst.«
    Er sei gewillt, seiner Gattin alles zu erzählen, ganz genau. Doch vorab bat er sie um Geduld und empfahl ihr, seine Aufzeichnungen ohne Hast zu lesen, denn er komme erst später zum Eigentlichen: »Damit ich meinen Bericht in der gebührenden chronologischen Abfolge entfalten kann, werde ich nämlich zunächst auf die weniger wichtigen Umstände eingehen.« Um eine an sich schon verworrene Geschichte nicht zusätzlich durcheinanderzubringen, könne er sich nicht gleich mit dem Kern befassen. Später. Wenn sie nur die Geduld habe, weiterzulesen.

Pazifischer Ozean
    – 1908 –
    Alicia betrachtete aus den Augenwinkeln ihr Spiegelbild im Bullauge und ihr gefiel nicht, was sie sah. Als sie vor zwei Tagen an Bord gegangen waren, hatte sie ihr langes dunkelblondes Haar noch in einer ausladenden Hochfrisur mit einer hübschen Spange festgesteckt, die ihre Stirn horizontal rahmte. Dass diese erwachsene, altmodische Haartracht nicht zu ihrem Kindergesicht passte, wollte sie nicht einsehen, deshalb bedauerte sie, dass der Wind sie zerzaust hatte. Nun fielen ihr die ungeordneten, von Salz verklebten Strähnen auf die Schultern. Bläuliche Augenringe, wie damals, als sie die Röteln hatte, beschatteten ihren hellen Teint. Die zarten, vollkommenen Züge ihres Gesichts wirkten im Konkav des Fensters vergröbert und verzerrt.
    Am 27. August – einen Monat nach ihrer Hochzeit – waren Ramón und sie an Bord der Corrigan II , einem Kanonenboot der mexikanischen Flotte mit großem Tiefgang Richtung Clipperton ausgelaufen. Im Frachtraum des Schiffsbauchs hatten sie die notwendige Aussteuer dabei, um aus der unfruchtbaren Insel einen bewohnbaren Ort zu machen: Säcke mit Mutterboden zum Anlegen eines Gemüsegartens und das dazugehörige Saatgut, einen riesigen Vorrat an Getreide und Früchten, darunter mehrere Gros Zitrusfrüchte, Werkzeug; Stoffe und Nähmaschinen; Gewehre, Macheten und weitere Waffen, eine mexikanische Flagge aus grüner, weißer und roter Seide mit dem von Nonnen in silbernen Fäden gestickten Staatswappen; Schweine und Hühner, kiloweise Dörrfleisch aus Oaxaca, Medikamente und eine Erste-Hilfe-Ausrüstung, Topfpflanzen, Kohle und andere Brennstoffe, Bilder und Familienfotos, eine österreichische Vorzimmereinrichtung; geflochtene Schaukelstühle aus Acapulco, eine Mandoline; einen Phonographen und die Schallplatten der Saison; ein Set mit Silberkämmen und Rosshaar für Alicias Frisuren, ein Kanarienpärchen in ihrem Vogelbauer, Süßigkeiten, Bücher und Zeitungen, und in einem ledernen Schrankkoffer, sorgfältig mit Mottenkugeln verpackt, das Brautkleid mit der achtzehn Meter langen Spitzenschleppe.
    Außer dem Ehepaar reisten noch die elf Soldaten mit, aus denen die Garnison unter Arnauds Kommando bestehen würde, begleitetet von Kindern und Soldatenfrauen. Ihnen wurde zusammen eine kleine stickige Ecke neben dem Maschinenraum zugewiesen, wo ihre Strohsäcke nur dicht an dicht Platz hatten. Bevor sie die Seekrankheit befiel und ausnahmslos alle fertigmachte, schlossen sie sich dort im Halbdunkel ein, um bei Würfel- und Kartenspielen ihren letzten Sold zu riskieren.
    Die Soldatenfrauen flatterten wie die Hühner um sie herum. Schwitzend, kreischend, mit rauer Haut und wilder Mähne, nach Rauch und Moschus riechend. Sie glichen sich alle, junge wie alte, sie hatten alle ein einziges unbestimmbares Alter. Mit heiseren Stimmen – wie Hörner, wie ulkige Falsette, wie Gänse – reihten sie Gebete an Gotteslästerungen, Schlaflieder und Liebesgeflüster an Flüche und Grobheiten. Mit ihren Ellbogen verschafften sie sich genug Platz, um ihre einzigen Habseligkeiten auf Erden von den Schultern zu laden: ein Bündel aus sarapes – gewebten Umhängen – und Tüchern, einen Mörser für den Mais und einen Tontopf zum Kochen der schwarzen Bohnen. Sie waren hinter ihren Männern – ihren juanes – an Bord gegangen, ohne die leiseste Ahnung, wo es

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