Die Insel der Verlorenen - Roman
verschickte Hochzeitsanzeigen und teefarbene Einladungskarten. Im Anschluss an die kirchliche Trauung sollte es ein Frühstück geben mit französischer Trinkschokolade, dazu Rot- und Blutwurst aus Don Félix’ eigener Schlachtung, der schließlich Gallier war, und ein Sortiment Canapés mit Doña Carlotas berühmter Mayonnaise.
Der Tag war gekommen und die kirchliche Zeremonie neigte sich ohne weitere Störungen – bis auf eine allgemein empfundenen Atemnot – ihrem Ende entgegen. Alicia registrierte hellwach jede Einzelheit und speicherte alles in ihrem Gedächtnis, wo es für alle Zeiten bewahrt blieb: der große Brillant an Doña Carlotas Kinderhand, den ihr Ramón mit dem Ehering hatte einfassen lassen und der jetzt in lauter winzigen Regenbogen funkelte; die von den passenden Clips langgezogenen Ohrläppchen; die Abendmahlshostie in den wulstigen Fingern des Priesters; der wehmütige Gesichtsausdruck ihres Vaters, den alle, außer Alicia, als Rührung auslegten; die übermenschlich hohen Stimmlagen des Chors, als er das Ave Maria anstimmte; das glückliche Lächeln Ramóns, der davon träumte, den Tag mit Würsten und Kakao zu beginnen; all das durchdrungen und überlagert vom dichten, beinah greifbaren Geruch der vielen Blumen.
Auf dem Höhepunkt des Schlusssegens fiel Alicias Blick auf die schwarzen Federn am aufwendig gearbeiteten Hut ihrer Schwiegermutter. Die störten, und muteten sie an wie ein dunkles Vorzeichen, so dass sie unwillkürlich das Gesicht verzog. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, beugte sich Ramón zu ihr hinüber und flüsterte:
»Ich habe es Mama gesagt, dass sie den Hut mit diesem gerupften Federzeug nicht aufsetzen soll, weil er dir Angst einjagen würde.«
Orizaba
– heute –
Auf der Suche nach den Überbleibseln jener Hochzeit bin ich in Orizaba. Eine kleine, düstere, glanzlose Stadt. In der Pension Loyo , wo Doña Alicia verwitwete Loyo wohnt , stöbere ich eine Vermählungsanzeige auf. Sie ist auf eine zweifach gefaltete, teefarbene Karte gedruckt und verkündet ihre Botschaft, wie üblich, als Doppelbekanntmachung:
Félix Rovira und Petra G. de Rovira
geben Ihnen die baldige
Eheschließung ihrer Tochter Alicia
mit Herrn Ramón Arnaud bekannt.
Carlota Vignon Wwe. Arnaud
gibt Ihnen die baldige
Eheschließung ihres Sohnes Ramón
mit Frl. Alicia Rovira bekannt.
Die Biographen der Arnauds (deren Enkelin María Teresa Arnaud de Guzmán und General Francisco Urquizo) nennen den 24. Juni als Hochzeitstag. Die Einladungskarte widerspricht diesem Datum jedoch: »… freut sich, Sie am 24. d.M. zur kirchlichen Trauung einzuladen«, steht darauf und sie ist datiert auf »Orizaba, Juli 1908«. Demnach haben sie im Juli geheiratet und nicht im Juni. Es ist nicht das erste Mal, dass ihr Lebenskalender durcheinandergerät, und es soll nicht das letzte Mal bleiben, dass ihnen die Zeit einen Streich spielt.
In seinen Memoiren Orizaba in meiner Erinnerung schreibt Antonio Díaz Meléndez, dass die Hochzeitsgäste nach der Trauungszeremonie »zum Hotel Francia gingen, wo der übliche Hochzeitskakao serviert wurde«.
Das Hotel gibt es noch, ich habe es vorhin besichtigt. Damals, so habe ich in Erfahrung gebracht, war dies der renommierteste Treffpunkt der städtischen Gesellschaft. Heute ist es eine Ruine. Mit einem lückenhaften Schriftzug stellt es sich als Gran Hotel de France vor, die Kacheln lösen sich von den Wänden, die neunundfünfzig Zimmer sind bis auf weiteres »wegen Renovierungsarbeiten« geschlossen. Aus seinen Glanzzeiten ist dem Hotel als ein einziges Andenken ein inzwischen greiser Logiergast geblieben, ein Spanier, der auf der Flucht vor irgendeinem Krieg nach Mexiko kam, seitdem dort wohnt und von den Behörden partout nicht rauszukündigen war, als das Hotel von Amts wegen geschlossen wurde, so dass er weiter über nunmehr geländerlose Balkone und Innenhöfe mit ausgetrockneten Brunnen wandelt, nicht ohne dabei über die Feuchtigkeit und seine Arthritis zu schimpfen.
Trotzdem lassen sich im Gran Hotel de France Spuren von Ramóns und Alicias Hochzeit finden, denen Zeit und Verfall nichts anhaben konnten. Im geräumigen Saal, der damals als Gastraum diente, lassen sie sich zwischen den Stützkonstruktionen der wurmstichigen Deckenbalken, den über die Wände kriechenden Stockflecken und den misshandelten Überbleibseln der Jugendstil-Fenster erahnen. Jeder Windstoß, der durch sie hindurchfährt, lässt die Gespenster jenes Hochzeitsfestes auferstehen:
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