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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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hinging. Aber vorher hatten sie, wie gewohnt, ein paar Schlucke abgekochtes Wasser mit Pulver zu sich genommen. Das gab ihnen die Fügsamkeit und die Furchtlosigkeit, über die Schlachtfelder zu ziehen, ohne an etwas anderes zu denken, als ihren Kerlen das Essen hinzustellen, sobald die Schießerei zu Ende war.
    Im Vergleich zu dem Loch, in dem ihre Untergebenen die Schiffsreise überstanden, war die kleine Kajüte der Arnauds der reinste Luxus. Sie hatten zwei Kojen, einen Waschkrug mit Schüssel und Spiegel für die Toilette sowie weitere Bequemlichkeiten, die auf einem Kriegsschiff dem Kapitän vorbehalten waren, darunter ein Kleiderständer und ein Schreibtisch. Hell entzückt entdeckte Alicia ihr Reich und richtete sich ein wie in einem Puppenhaus. Es war ihre erste Seereise und Ramón riet ihr, Vorkehrungen gegen die Übelkeit zu treffen, indem sie nichts anderes essen sollte als ungewürzten Weißfisch und Maisbrei, und dazu nur Zitronenwasser trinken. Trotz dieser vorbeugenden Maßnahmen schlief sie am dritten Tag bis spät in den Vormittag hinein und wachte unruhig und in der stickigen Kajüte nach Luft schnappend auf. Ramón war schon seit Stunden weg. Sie stand hastig auf und ging hinaus, dann nahm sie die enge Stiege nach oben zum Deck und erblickte an irgendeinem Punkt dieses Aufstiegs überrascht ihr krankes Antlitz in einem Bullauge.
    Als sie endlich im Tageslicht stand, sah sie den verhüllten Horizont dicht vor sich, er schien zum Greifen nahe. Den Menschen blieb zwischen Wasser und Himmel nur noch ein schmaler Streifen und dort herrschte die Temperatur eines Hochofens. In einer Laune hatte die Brise unversehens ausgesetzt und kleine bösartige Wellen sprangen plötzlich auf und warfen das Schiff mitleidslos hin und her. Ein unverwechselbarer Geruch drang ihr in die Nase. Säuerlich und organisch. Der Geruch von Erbrochenem. Die Übelkeit hatte, gleich einer unabwendbaren Initiation für jenes Grüppchen von Abenteurern, die sich zum ersten Mal aufs Meer wagten, einen nach dem anderen erfasst. Alicia sah Soldaten, Soldatenfrauen und Kinder kreideweiß und gekrümmt umherlaufen, und hörte als Untermalung dieses wenig erbaulichen Anblicks zum hundertsten Mal, seit sie abgelegt hatten, ein Kinderstimmchen immer den gleichen absurden Singsang wiederholen:
    »Sonne, liebe Sonne, wärme mich ein wenig, heute, morgen, ohne Sorgen, Sonne, liebe Sonne … «
    Die teuflische Hitze an Deck spaltete den Menschen die Schädel und unter dem Gebälk begann einem der Kopf fiebrig zu surren, indes man auf dem Fußboden Eier braten konnte. Trotzdem sang das Kind genau diese Zeilen unentwegt vor sich hin, während der gesamten Überfahrt, Sonne, liebe Sonne, wärme mich ein wenig, und saß dabei, die Matrosenmütze aus weißem Piqué bis an die Ohren gezogen, mit weit aufgerissenen, ins Leere starrenden Augen, auf einer Bank und ließ die schokoladenfarbenen Stiefeletten baumeln, die mit langen Senkeln kräftig geschnürt waren.
    In der Reglosigkeit der siedenden Luft hallte sein Vogelstimmchen wider und füllte alles aus. Ein winziges, anhaltendes Flehen, wie der Wassertropfen auf dem Kopf des Gefesselten. Alicia wollte sich von ihm entfernen, setzte sich jedoch, wie vom Schicksal genötigt näher zu ihm und begann, im Geiste sämtliche Möglichkeiten durchzuspielen, es zum Schweigen zu bringen. Als wäre das der Schlüssel, als konzentrierte sich in diesem Kind mit den Stiefeletten und der Matrosenmütze, vielmehr in dessen Stimme, genau genommen in dem spezifischen Ton seiner Stimme, das Epizentrum der Hitze, der kollektiven Übelkeit, des allgemeinen Würgens. Wem gehörte dieses Kind? Wo war sein Vater, damit er ihm ein paar hinter die Ohren gab? Ihre Nerven waren kurz vorm Zerreißen und ihre Stimmung entsprechend grob, als sich Alicia Methoden ausdachte, ihm den Mund zu stopfen. Sie erinnerte sich an die Nonnen in der Schule, Sor Carola oder Sor Asunta, die ihre Zöglinge kniffen und sich dazu anpirschten wie Schatten, dann war er plötzlich da, ohne dass man wusste, wie einem geschah, der Schmerz am Arm, stechend und kurz wie der Schnabelhieb einer Henne. Sie würde dieses Kind niemals kneifen, aber es beruhigte ihre Nerven, sich vorzustellen, dass sie es tat.
    Als sie merkte, dass ihr Körper nicht in der Lage war, länger zu widerstehen, beugte sich Alicia über die Reling und streckte sich einer schwer vorstellbaren Brise entgegen, die ihr das Unwohlsein wegblasen sollte. Ihr Blick fiel auf den Pazifischen

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