Die Insel der Verlorenen - Roman
Ozean. Ein einziges dickes graues Brodeln, eine lauwarm dampfende Suppe. »Wenn ich ihn weiter anschaue, dann klappe ich am Ende auch noch zusammen«, sagte sie sich und wandte ihm den Rücken zu, um die Gischt und die aufwallenden Wassermassen nicht mehr sehen zu müssen. Da bemerkte sie ein paar Meter weiter ihren Mann.
Der Hauptmann * der mexikanischen Streitkräfte, Ramón Arnaud, krümmte sich unter Krämpfen über die Reling und würgte die letzten gelben Magensäfte aus. Er war kein Seemann, er war Soldat, ein Wolf vom Festland. Die rauen Jahre im Rudel der Kasernen hatten ihn hart gemacht gegen jede erdenkliche Landplage, aber wie er sich gegen den Seegang des Meeres zur Wehr setzen sollte, war ihm schleierhaft. Sein Magen krampfte weiter, obwohl er schon alles von sich gegeben hatte, und jede Kolik wurde zum Vorgeschmack der Hölle, schon schienen sich nämlich seine Verdauungsorgane nach draußen zu kämpfen und drohten sich umzustülpen wie ein Handschuh. Seine Drillichuniform war bespritzt und aufgeknöpft, sein Gesicht glänzte von kaltem Schweiß. Nur seine mit Brillantine fixierten Haare blieben, von der gewaltigen Erschütterung des übrigen Leibes unberührt, in einer akkuraten Mittellinie gescheitelt und martialisch in Reih und Glied auf seinem Kopf haften. Sie fand ihn schmuck, trotz seiner Beschmutzung, würdevoll, inmitten seiner Verwüstung. »Er ist noch nicht einmal ungekämmt, wenn er sich übergibt«, dachte Alicia und ihre schlechte Stimmung war verflogen.
Im gleichen Moment erhob sich wie durch ein Wunder eine frische Windbö, fuhr stoßweise über das Deck und blies den gequälten Passagieren in die Gesichter. Die saubere, reine Luft erneuerte ihre Lungen, besänftigte ihre Mägen und vertrieb ihre Todesfantasien. Eine Möwe zog torkelnd über das Schiff hinweg und kündete vom nahen Land. Wie von Zauberhand legten sich die Wellen und das Meer verflüssigte sich wieder und lag schon bald vollkommen glatt und von einem goldenen Schimmer bedeckt da.
Männer und Frauen hoben die Köpfe und erblickten sie in der Ferne: Da lag sie vor ihren Augen, die Silhouette der Insel Clipperton, weiß, strahlend und unbewohnt. Es war der 30. August 1908.
* In Wirklichkeit wurde Oberleutnant Arnaud erst am 26. August 1913 zum Hauptmann befördert.
Clipperton
– 1917 –
Am Morgen des 18. Juli 1917 sah der nordamerikanische Kapitän H.P. Perril die Insel Clipperton zum ersten und letzten Mal. Er hat nie einen Fuß darauf gesetzt, aber von seinem Schiff, der USS Yorktown aus beobachtete er sie eingehend mit einem Fernrohr. Er umrundete sie vollständig – in einem vernünftigen Abstand zum Riff, das sie einschließt – , und brauchte dafür genau eine Stunde. Dabei stellte er fest, dass ihr Umfang rund fünf Meilen, also acht Kilometer beträgt. »Die Insel Clipperton«, schrieb er, »ist ein gefährliches, flaches Atoll von rund zwei Meilen (3,2 km) Durchmesser.«
In seiner prähistorischen Geschichte muss Clipperton wohl ein Vulkan gewesen sein, umschlossen von einer Krone aus Korallen. Der Berg ging allmählich unter, er versank unter die Wasseroberfläche, während die hermetische Mauer des Riffs erhalten blieb und aus dem Meer ragt. Und wo sich früher der Vulkan befand, genau an der Stelle seines Kraters liegt jetzt die brackige Süßwasserlagune, ein schwefelhaltiges Gebrodel aus dem Herzen des Planeten.
Der Kapitän fuhr fort: »Ein mächtiger Felsen von 62 Fuß (18,6 Metern) Höhe ragt an der Südostküste (der Insel) in die Höhe und erinnert auf den ersten Blick an ein Schiffssegel, wenn man näher kommt, an ein riesiges Schloss. Dieser Felsen kann aus einer Entfernung von 12 bis 15 Seemeilen gesichtet werden, doch bei trüber Witterung sieht man weder den Felsen noch die Insel selbst, bis man sehr nah dran ist.
Die natürlichen Wellenbrecher auf der Ostseite sind als Warnung nicht deutlich genug, damit ein Schiff seinen Kurs ändert und sie umfährt. Die Insel ist eingefasst von einem durchgehenden Korallenriff, das Meer brandet mit hohen Brechern unentwegt dagegen an und überschwemmt die Insel manchmal sogar. Haie umkreisen sie. Während der Regenzeit gehen die Güsse vor allem an der Südwestküste nieder.
Während ich um sie herumfuhr, sah ich mehr Möwen, fliegende Fische und Schmetterlinge als je zuvor auf einer vergleichbaren Fläche«, bemerkte Perril staunend über diesen Flecken ohne jede Vegetation, wo kein Grashalm die Feindseligkeit der Felsen weichzeichnet, und der
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