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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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wurden von Ramón mit Teekompressen behandelt. Bis sich das nächste Mal, Wochen später, an einem friedlichen Nachmittag eine Bemerkung verirrte und der Ehestreit erneut losbrach, stürmisch wie der Regen, und eine ebenso eindeutige wie entscheidende Funktion erfüllte: die abgenutzte Gefühlsintensität ihres ewig langen Dialogs zu erneuern und ihm wieder Glanz zu verleihen, damit er sich nicht abspulte wie die Rolle der gatita blanca im Pianola.
    Die Frucht dieser intensiven Gefangenschaft zu zweit ließ nicht lange auf sich warten. Da auf Clipperton die Zeit stehengeblieben und ein Kalender völlig überflüssig war, hatte Alicia jegliches Zeitgefühl verloren.
    Montag war genauso wie Donnerstag oder Sonntag, und September, Oktober oder November waren mehr oder minder das Gleiche. Trotzdem merkte sie Anfang Dezember, dass sie seit einiger Zeit nicht mehr die Tücher ihrer Monatsblutung zu waschen brauchte, und als sie in den Spiegel sah, stellte sie fest, dass ihre Taille verschwunden war.
    Die Nachricht der Schwangerschaft löste bei Ramón wegen der inzwischen nicht mehr nachvollziehbaren Verspätung des Versorgungsschiffs unkontrollierte Angstzustände aus. Der Dezember war der vierte Monat, seit es sie dort abgesetzt hatte, dafür fehlte einfach jede Erklärung, und diese Verzögerung unterlief alle ihre Pläne. Die fortdauernden Regenfälle hatten die Erde ihres Gemüsegartens weggeschwemmt und sie begannen die Knappheit von Zitrusfrüchten und Frischkost zu spüren. Ramón fürchtete, dass sie eine grässliche, unter Schiffbrüchigen und Seeleuten grassierende Krankheit befallen könnte, über die in den Medizinbüchern einiges zusammengetragen war: Skorbut. Er wollte keine unnötige Panik schüren und nahm deshalb das Wort nicht in den Mund, trotzdem erforschte er, wenn er mit jemandem sprach, verstohlen dessen Zahnfleisch, um festzustellen, ob es schwarz war, denn das wäre ein erstes Anzeichen.
    Vor allem quälte Ramón jedoch die Vorstellung, dass seine Frau Komplikationen bei der Geburt haben könnte und er ihr, wegen seiner fehlenden Verbindung zum Festland, nicht würde helfen können. In seinen schlaflosen Nächten, die sich jetzt häuften, wurde ihm die Vorstellung, dass Mexiko sie vergessen hatte und Alicia auf der Insel einen »Wilden« zur Welt bringen musste, zur Obsession. Das Einzige, was kurzfristig die Schmeißfliege seiner Ängste zu verscheuchen vermochte, waren die Stunden der Liebe, die sie beibehielten, und eine Überzeugung, die in ihm Gestalt annahm, je öfter er die Schriften über Clipperton las: Dass der Pirat auf dem Atoll einen sagenhaften Schatz hinterlassen hatte, der nach Arnauds Schlussfolgerungen entweder in der Lagune oder im großen Südfelsen liegen musste.
    Ungeachtet dieser Tröstungen, entging den anderen nicht, dass ihr Hauptmann seine Gelassenheit eingebüßt hatte, ein kleiner nervöser Tic machte sich bei ihm bemerkbar. Sein linker Mundwinkel zuckte zunächst kaum merklich, dann immer öfter und deutlicher, und ging am Ende mit einem plötzlichen Zwinkern des gleichseitigen Auges einher.
    »Hör mal auf mit deinen Grimassen, es geht noch nicht um Leben und Tod«, versuchte Alicia ihn zu beruhigen. »Das Schiff wird mit seinen Segnungen schon noch kommen.«
    Endlich sahen sie eines Nachmittags, als sie in der kleinen Kammer neben dem Schlafzimmer saßen und sich unterhielten, durch die Glasfenster – gelb, rot, violett – Tirsa Rendón de Cardona, schreiend und nach allen Seiten Wasser versprühend herbeieilen, um ihnen Bescheid zu sagen, dass sich ein Schiff näherte. Alle rannten zum Kai und standen in den Sturmböen des Unwetters, mit bis zum Hals pochenden Herzen, um zuzusehen, wie sich die verschwommenen Umrisse in den tosenden Wellen ihren Weg bahnten und allmählich erkennbare Formen annahmen.
    Es war weder El Demócrata noch die Corrigan II , sondern das Schiff der nordamerikanischen Guano-Gesellschaft, das wie jedes Jahr zur Insel kam, um die Erträge einzusammeln. Es brachte erlesene Geschenke von Brander für dessen Nachfolger Schultz: französischen Champagner, Amaretto aus Sarona, Schachteln mit Datteln, andalusisches Olivenöl, Gläser mit Maraschino-Kirschen und dänischen Dosenschinken.
    Aber es brachte auch Nachrichten, die ihren Mut sinken ließen: The Pacific Phosphate Co. Ltd . hatte kein großes Interesse mehr an Clipperton, denn die Gesellschaft hatte inzwischen unberührte reiche Guano-Ablagerungen auf viel näher gelegenen Inseln entdeckt,

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