Die Insel der Verlorenen - Roman
die fein gearbeiteten Gehröcke, die sie ihren Opfern entrissen, über die vom Meerwasser zerfressenen Kleider und die von Salzlake steifen Haarschöpfe. Sie behängten sich mit Perücken und Schmuck, vervollständigten die Kostümierung mit Parfüm und Spitzen, und begannen, geschmückt wie Altäre zum Ostersonntag, ihr Fest.
Manchmal, allerdings eher selten, brachten sie vom Kontinent Frauen mit, die sie aus Bordellen, Gefängnissen oder Waisenhäusern entführten. Dabei handelte es sich um verlauste, rabiate Huren, die ohne Zartgefühl mit den Männern umsprangen, aber in den Morgenstunden nach der Rangelei, vom Heimweh aufgeweicht, einen warmen mütterlichen Dunst verströmten, der einschläferte und tröstete.
Das Übliche waren indes Exzesse unter Männern. Sie spielten mit ihren Pistolen, verhängten dafür die Fenster und Ritzen eines Zimmers, damit es darin stockfinster wurde. Dann setzte sich einer von ihnen in die Mitte auf den Boden und legte zwei Pistolen vor sich hin. Die anderen stolperten herein und tasteten sich in der Finsternis, wie schnell es eben ging vorwärts, um sich in die Ecken zu kauern. Jemand gab das Signal, worauf der Mann in der Mitte die Pistolen aufhob, überkreuzte und losschoss. Erst bei Tagesanbruch erfuhren sie, wen es diesmal erwischt hatte.
Sie kochten sich üppige Mahlzeiten und stopften sich mit Schweinefleisch, Geflügel und Schildkrötenfleisch voll. Sie tranken bis zum Umfallen und warfen sich im Suff, wie unerzogene Kinder das Essen auf die Köpfe, begossen sich gegenseitig mit Wein, lachten, zogen sich an den Ohren, kniffen einander, piksten die anderen mit dem Degen, erbrachen, heulten, fielen in ihre eigenen Urinpfützen und schliefen ein. Tags darauf sah ihre Insel sie stinkend und übel zugerichtet die Augen aufschlagen, dann wankten sie mit ausgedörrten Kehlen an ihre jeweiligen Strände und versanken in tiefer Trübsal.
Die gekaperte Beute existierte nur noch in der Erinnerung. Alles Gold, das John Clipperton und seine Seeräuberkumpane ins Versteck ihrer Insel schleppten, ist auf dem gleichen Weg wieder verschwunden, wie es dorthin gelangt war. Niemand hat Schätze auf jenem Atoll vergraben, weil das Sparen und Anhäufen von Vermögen nichts ist für Männer, die jeden Morgen beim Aufwachen überrascht feststellen, dass sie noch am Leben sind.
Keiner von ihnen hätte die Geduld oder den Willen aufgebracht, etwas anzusammeln, am allerwenigsten John Clipperton selbst, dieser spiel- und verschwendungssüchtige Prahler, der sich ohne Reue rühmte, im Laufe der Zeit einen ungeheuren Reichtum verprasst zu haben.
Davon geben die Einwohner der Insel La Tortuga beredtes Zeugnis, die ihn an so manchem Morgen, schwer bepackt mit Barren aus Edelmetall, Geiseln und Säcken voller Hehlerware, auf der Cinq Ports einlaufen sahen; tagsüber von früh bis spät um sagenhafte Summen handeln und feilschen; und sich abends in den Tavernen und Freudenhäusern aufplustern, hemmungslos Geld ausgeben, sich als Falschspieler hervortun und mit großer Geste zum Essen einladen und Almosen verteilen. Im nächsten Morgengrauen sahen sie ihn dann in einer Ecke liegen und seinen Rausch ausschlafen, während ein verkrüppelter Bettler ihm die Rocktaschen um die letzten Münzen, die letzten Reste der Beute erleichterte.
Clipperton
– 1908–1909 –
Weihnachten ging unbemerkt an Clipperton vorüber. In der Neujahrsnacht brach der Himmel auf und ergoss Katarakte über die Insel und ihre schweigsamen Bewohner, die sich früh schlafen legten und die Decke über den Kopf zogen, damit die hellen Blitze sie nicht blendeten. Das Ehepaar Arnaud empfing die Gäste der Freitagabendrunden und ließ sich mit ihnen die von Brander geschickten Konserven und Spirituosen schmecken. Aber die Trinksprüche zu Mitternacht waren wortarm und die Umarmungen tränenreich: Das ausbleibende Versorgungsschiff und das Verlassenheitsgefühl drückten die Stimmung enorm.
Das eigentliche Fest fand am zweiten Januar statt, als endlich El Demócrata mit Vorräten, Personal zur Ablösung, Säcken mit Gartenerde, Briefen von den Angehörigen und Nachrichten aus Mexiko eintraf. Die vierundvierzig Erwachsenen und Kinder, also Clippertons gesamte damalige Bevölkerung, tanzten und tranken mit dem Kapitän, den neunzehn Matrosen und den sechs Passagieren der El Demócrata die ganze Nacht im leeren Guano-Schuppen.
Ramón, der es kaum erwarten konnte, Neuigkeiten aus Mexiko zu hören, setzte sich mit dem Schiffskapitän
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