Die Insel der Verlorenen - Roman
gewann wieder die kindliche Elastizität, die sie in Orizabas Hügeln gelassen hatte. Sie verlegte eine Haarnadel nach der anderen, bis sie die altmodische Hochfrisur aufgeben und ihre Löwenmähne offen tragen musste.
Die brennende Sonne der vorangehenden Monate hatte die gespenstische Blässe ihrer Körper durch einen gesunden Braunton ersetzt, und als der letzte Tropfen Magnesiummilch aufgebraucht war, der unter die Arme gerieben, die Ausdünstungen ihrer Achseln schluckte, entdeckten sie den natürlichen Reiz ihrer animalischen Gerüche.
Auch in dieser Zeit, die Alicia später als die glücklichste ihres Lebens in Erinnerung behalten sollte, knüpften sie ein endloses Gespräch an und setzten es Tag für Tag, über viele Jahre fort, ohne es je zu unterbrechen, denn bei Ramóns Tod führte Alicia es alleine weiter, indem sie ihren Dialogpart laut aussprach und sich dann aus dem Gedächtnis die Antwort gab, die ihr Ramón an dieser Stelle gegeben hätte.
In diesem nicht enden wollenden Dialog, der sich wie eine Schlange oder eine Acht um sich selbst drehte, tauschten sie in verteilten Rollen oder im Duett, in allen Tonlagen, Inniges und Unangenehmes, Antrieb und Anliegen ihrer Liebesbeziehung aus. Sie machten Bestandsaufnahmen der guten und der schlechten Seiten von jedem, den sie kannten; entwarfen Zukunftsträume und verwarfen sie wieder; besprachen den Alltag und erforschten das Transzendente; wogen Vergangenheit und Gegenwart ihres Lebens im Diesseits ab und gestanden sich Ängste und Hoffnungen im Bezug auf das Leben im Jenseits.
Manchmal fiel mitten im wohligen Frieden eines regnerischen Nachmittags eine beliebige Bemerkung und entfesselte einen Ehestreit. Das passierte, wenn Alicia fand, dass Doña Carlota das Vermögen der Arnauds verschwendet hatte, oder wenn Ramón der Ansicht war, Don Félix Rovira sei ein eifersüchtiger, dominanter Vater. Dann ließen sie ihre Hände los, ereiferten sich und ritten auf einem wilden Wortschwall, der sie, an einem bestimmten Punkt, den sie im Nachhinein nicht mehr zu fassen bekamen, dazu trieb, sich wütend zu beschimpfen, sich ihre Fehler ins Gesicht zu schreien, sich zu hassen wie zwei Kampfhähne. Den Höhepunkt markierte unveränderlich das Aufplatzen alter Eifersüchte, die sie beide, uneingestanden, in irgendeinem Winkel ihres Herzens hegten.
Ramón warf ihr vor, dass sie die Augen eines Kalbs auf der Schlachtbank annehme, sobald Leutnant Cardona an ihren Freitagabenden zu singen begann:
»Glaubst du, ich merke nicht, dass du die Polka lieber mit ihm tanzt?«, fragte er sie mit einer Entrüstung, als ginge es darum, den Mörder seiner Mutter zu stellen.
Alicia schwor ihm, nein, bei Gott, sie gab schon zu, dass Cardonas Gesang und Tanz vom Feinsten seien, aber das hieße schließlich gar nichts. Sie schnurrte, dass er der Einzige in ihrem Leben sei, schmiegte sich zärtlich wie eine Katze an ihn, aber wenn Ramón dann eingeschnappt und gleichgültig blieb, dann wurde das Kätzchen unversehens zum Tiger. Ihre Augen sprühten vor Wut gelbe Funken und zwischen den zusammengepressten Zähnen spuckte sie ihm die Worte entgegen:
»Und du, wie steht’s denn bei dir mit der Dingsda Pinzón?«, sie meinte das Mädchen von Schultz, »du starrst ihr also nicht auf den Hintern, wenn sie unter dem lächerlichen Vorwand in die Ambulanz kommt, sie hätte Kopfschmerzen, damit sie dich alleine treffen kann?«
»Das ist kein Vorwand, die Ärmste leidet unter einer schrecklichen Migräne, und außerdem mag ich ihren Hintern gar nicht«, wehrte sich Ramón. Jetzt war er das Kätzchen und Alicia spielte die Gleichgültige.
So zerbrach die traute Eintracht, die sie vor der Auseinandersetzung vereint hatte, ihre ewige Liebe lag in Scherben auf dem Boden verstreut, ihr Leben war zerstört und dem Verderben preisgegeben. Alicia rannte ins Schlafzimmer und schluchzte bitterlich, während sich Ramón in sein Arbeitszimmer einschloss. Wenn sie lange genug auf ihrem Groll herumgekaut und sich mit ihren Eifersüchten gequält hatten, wenn ihr Hass sank wie aufwallende Milch, die man vom Feuer nimmt, suchten sie einen Vorwand, sich wieder zu begegnen, umarmten sich im aufrichtigen Glück ihrer Versöhnung, und die kosmische Ordnung war, einfach so, übergangslos und ohne logische Entwirrung wiederhergestellt, die Anwürfe verflüchtigten sich an einen Ort, wo es sie nie gegeben hatte, und alles war wieder wie vorher.
Nur Alicias geschwollene Lider erinnerten dann noch an das Drama und
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