Die Insel der Verlorenen - Roman
Arnaud ihm für alle Zeiten verübelte.
Nach dem Abendessen holte Arnaud seine Mandoline hervor. Alicia hätte es zwar lieber gesehen, wenn er Gitarre oder ein anderes Instrument gespielt hätte, weil ihr die Mandoline mit den perlmutternen Einlegearbeiten und ihrem hellen Klang zu weiblich vorkam, und sie außerdem die Wirbel und das ganze verspielte Beiwerk lächerlich fand. Aber Ramón ging nicht darauf ein und trug seine Musik mit der Vehemenz eines Kosaken vor, der ein Fohlen bändigt, und mit dem Ernst eines Virtuosen, der zum ersten Mal als Erste Geige auftritt.
Anschließend fing Leutnant Cardona an zu singen, und Alicia erkannte hocherfreut die aktuellen Schlager aus den Tanzsälen der großen Städte wieder, wie den vom weißen Kätzchen gatita blanca oder den über die Veilchen, die einer im Morgengrauen pflückt.
Cardonas Stimme war samten, sie betörte, verführte und stieg, vom Alkohol erwärmt, vom Bass in den Tenor. Das Trinken gab seinen Augen einen seltsamen Glanz und seiner Stimme die volltönende Branntweinreife eines Don Juan, eines finsteren Gesellen, eines Strolchs vom Dienst. Er ließ Triller und Streiche, weiße Kätzchen, Veilchen und Tanzsäle hinter sich, und schmetterte mit vollen Lungen sein Repertoire an Volksliedern und Gassenhauern hinaus. So jene über die unselige Kaiserin von Mexiko, die nach dem Verlust von Krone und Verstand nach Europa zurückkehrt: »Der Pöbel auf den Kreuzern meutert. Sie sagen: Adiós, Mama Carlota, solange der Wind dein Schiff peitscht, adiós meine süße Liebe.«
Sie spielten das Pianola und tanzten dazu Polkas, Walzer, Habaneras und Jarabes, und wenn es schon gegen Morgen ging, spielten sie Mensch-ärgere-dich-nicht, Domino oder Karten, was jedes Mal in Geschrei ausuferte, wenn sie Daría Pinzón beim Mogeln erwischten.
Ihre Freitagabende wurden zur lieben Gewohnheit, die sie andächtig einhielten, bis der Orkan kam und das Pianola aus seiner Ecke riss und an die Felsen schleuderte, und die Mandoline mit Kokosnüssen, Hühnern und Brettern im Kreis herumwirbelte und schließlich ins offene Meer hinaustrieb.
Aber das war erst später. Im Augenblick sah seine Frau, Ramóns Befürchtungen zum Trotz, von Tag zu Tag glücklicher aus. Ein Zustand, der weniger mit ihren nächtlichen Gesellschaften zusammenhing, als dass die anhaltenden Regenfälle Alicia den Vorwand lieferten, in das einzutauchen, was für sie die beste Welt war, die sie sich vorstellen konnte: die jede Minute mit Ramón geteilte Zweisamkeit, nur belauscht von der Mitwisserschaft ihrer vier Wände. Mitten in ihren Entbehrungen schenkte Clipperton ihnen eine Chance, die ihnen Orizaba niemals gewährt hätte, nämlich die, große Freunde und Geliebte zu werden.
Sie hatten Zeit und Abgeschiedenheit im Überfluss, um sich bis zur Meisterschaft zu lieben, so enträtselten sie nach vielen Fehltreffern und Niederlagen die exakte Kunst der gegenseitigen Lust. Sie brachten das Chaos ihrer Impulse mit dem Rhythmus des gemeinsam pochenden Blutes in Einklang, gewöhnten sich an die Nacktheit, gewannen Geschick und verloren ihre Verlegenheit, beteten weniger und lachten mehr. Herr, gib, dass ich’s nicht genieße, Herr, bitte, gib dass ich’s nicht genieße!, flehte Alicia vergeblich, wenn sie spürte, dass die Wonne wie eine Welle, unaufhaltsam, elektrisierend in ihr aufstieg und sich anschickte, sie von Kopf bis Fuß zu durchströmen.
Hinter den dichten Vorhängen aus Wasser feierten sie täglich das Ritual, sich beim Aufsteigen der blutroten Sonne, wie auf einer Postkarte, in der Hängematte des Ostbalkons zu lieben, und beim goldenen Abendlicht in der des Westbalkons.
DiekörperlichenVeränderungen,durchdieVersorgungsengpässedesausbleibendenSchiffes,wirktensichfürallebeidevorteilhaftausundtrugendasihrezumAusbruchihrerLeidenschaftbei.UnterdenerstenVorräten,dieaufClippertonzurNeigegingen,wardiePomade,sodassRamónnotgedrungenaufdiesteifeFrisureinerBauchrednerpuppeverzichtenmusste,gleichzeitigüberließerseinschmalesOberlippenbärtchendemWildwuchs,bisdarauseinvoller,sinnlicherSchnurrbartgewordenwar.AußerdemschwandenunterderDiät,fernabvonDoñaCarlotasfürstlichenBanketten,DoppelkinnundBauch,dieseineKonturenschonrund hatten werden lassen.
Alicia gingen dafür die Dosen mit Reispuder aus, und als sie ihn nicht mehr verwendete, bekam ihre durchscheinende Puppenhaut ein menschlicheres Aussehen. Sie legte ihre Mannequin-Attitüden ab wie die starren Korsetts und Krinolinen und ihre zarte Figur
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