Die Insel der Verlorenen - Roman
deren Zugang außerdem ungefährlicher war. Daher kündigte sie an, dass sie die Abstände ihrer Fahrten zum Atoll vergrößern wolle, bat Schultz jedoch, noch einige Monate dortzubleiben, als Gewährsmann, dass die Gesellschaft ihre Konzession hielt, bis die Anlage endgültig stillgelegt wurde und er auf eine andere Insel versetzt würde.
Aus Schultz’ Kehle löste sich eine unverständliche Schimpftirade, und der Tic in Ramóns Gesicht steigerte sich auf zwei bis drei Zuckungen pro Sekunde.
Insel Clipperton
– 1705 –
Damals hieß sie noch nicht so. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts dachte man, dass jene Insel keinen Namen hätte, weil sie keinen verdiente. Nur wer etwas von Schifffahrtsstraßen und Kartografie verstand, wusste, dass Ferdinand Magellan, als er in ihrer Nähe vorübersegelte, sie auf den wohlklingenden und bewegenden Namen Isla de la Pasión getauft hatte.
Im Jahr 1705 landete der englische Korsar John Clipperton zum ersten Mal auf der Insel. Es heißt, dass sein Schiff, die Cinq-Ports , an ihrem einzigen Mast nicht etwa die allseits bekannte schwarze Piratenflagge mit dem Totenkopf und den gekreuzten Knochen gehisst hatte, sondern ein stolzes Zinnoberrot, auf dem ein geflügeltes Wildschwein abgebildet war. Geflügelt oder aufgebäumt, darüber herrscht Uneinigkeit in den Quellen.
Wie durch ein Wunder umschiffte es die der Insel vorgelagerten Riffplatten, die Unmengen anderer Boote zerrissen hatten – und in kommenden Jahrhunderten noch zerreißen sollten. Die einen behaupten, das sei daher gekommen, dass die Insel den Wimpel desjenigen erkannte, der ihr Herr sein würde und sich unterwarf, indem sie ihn passieren ließ. Die anderen sehen die Erklärung dafür in der Bauweise seines Schiffes: schlank und wendig, mit wenig Tiefgang, niedriger Reling und kurzem Kiel.
Eins steht jedoch fest: Mit dem Namen, Cinq Ports – fünf Häfen – , huldigte sein Kapitän einer uralten gleichnamigen Piratenbruderschaft, deren Mitglied er war, die »Cinq Ports« (Hastings, Romney, Hythe, Douvres und Sandwich, alte Bastionen an der Südostküste Englands). Als die Piraterie wiederauflebte, sich in Amerika breitmachte und an den spanischen Galeonen schadlos hielt, kehrte die Allianz der »Cinq Ports« ebenfalls zurück und mit ihr ähnliche Zusammenschlüsse – wie die »Brüder der Küste« oder die »Bettler der Meere« – , um die Seeräuber der Insel Tortuga zu vereinen und zu schützen.
Der Kapitän John Clipperton erreichte das Atoll, das heute seinen Namen trägt, an einem Tag, als er, abseits der üblichen Schiffsrouten unbekanntes Gewässer durchstreifte. In der Überlieferung heißt es, er habe einen Fels oder eine vom Meer umspülte Sandbank gesucht, um einen Verräter, einen, der den Schwur zum Gehorsam gebrochen hatte, dem Tod zu überstellen. »Maroon«, hatte die Mannschaft der Cinq Ports gebrüllt und gefordert, den Schuldigen zu bestrafen, worauf nach geltendem Seerecht die Aussetzung verhängt wurde.
Clipperton,derGrausame,berühmtfürdieHärteseinerSanktionen,erspähtedieUmrissejenerInsel,dieernochnieerkundethatte,undbefahl,daraufzuzuhaltenunddenVerurteiltenvorzubereiten.Esheißt,erhabedemTodgeweihtenmitdemErbarmeneinesSklavenhändlersunddemHumoreinesHenkerseinpaarsarkastischeTrostwortemitgegebensowiedienachdemGesetzdes maroon üblichenBeigaben:eineFlascheSüßwasserundeinePistolemiteinereinzigenKugel.
Doch als er das Riff passierte und sich die Küste aus der Nähe ansah, fand Clipperton mehr als er gesucht hatte. Er entdeckte einen Platz, der wie gemacht war, nicht nur um Verräter umzubringen, vielmehr, um sich selbst zu verstecken. Das war genau der Unterschlupf, den er brauchte.
In den Abhandlungen über die Seeräuberei steht zu lesen, dass ein Pirat nicht an seinem Schiff hängt. Er entreißt ihm die edlen Holzschnitzereien, wirft das luxuriöse Mobiliar über Bord, wie alles, was sein Gewicht erhöht und seine Geschwindigkeit hemmt, weil er für seine Raubzüge ein wendiges, gut zu führendes Fahrzeug braucht. Ein Pirat ist jederzeit bereit, sein Schiff ohne Sentimentalitäten abzustoßen, wenn er die Gelegenheit hat, ein Besseres zu erbeuten.
Nicht so seinen Unterschlupf. An besiedelten und regierten Orten ist der Pirat nichts weiter als ein Flüchtling, ein seiner Freiheit und seines Leben beraubter Verbrecher. Entdeckt er aber ein Niemandsland, wo er als Herr und Herrscher mitten im Ozean nach Gutdünken walten kann, dann geht er zu diesem Platz eine innige Beziehung
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