Die Insel der Verlorenen - Roman
Guano-Produktion und die Ausübung seiner eigenen Funktion auf der Insel, die nie jemand lesen würde.
Indessen stickte Alicia wahre Kunstwerke in Dutzende von Laken und Tischdecken, die sie niemals benutzen würde, weil sie schon so viele besaß, dass sie für ihr ganzes Leben genügten. Dazu setzte sie sich auf einen wurmstichigen Stuhl ans bunte Glasfenster in der Kammer neben dem Schlafzimmer und verbrachte, während ihre kundigen Finger die Arbeit von selbst erledigten, die Stunden damit, zuzusehen, wie das vom Gewitter aufgewühlte Meer in der blauen Scheibe zu Eis gefror, in der gelben raste, in der grünen verlangsamt und fast tot wirkte und in der violetten nächtlich und jenseitig.
Ramón setzte sich in den Kopf, dass ihre Isolation und das Ausbleiben von Nachrichten aus Orizaba seiner Frau auf die Stimmung schlugen. Seine eigene war schon im Keller, auch wenn er das nicht zugeben wollte. Die Erinnerungen an den zurückgelassenen Wohlstand plagten ihn zusehends und sein Gedächtnis fing schon an, eine dumpfe Wehmut nach vergangenen Zeiten zu entwickeln. Dabei waren es nicht unbedingt die großen Verluste, die ihn am meisten quälten, vielmehr vermisste er Kleinigkeiten: Die ebenso unbedeutenden wie unerreichbaren Dinge wühlten unablässig mit ihren Mäusekrallen in seinem Heimweh. Dazu gehörten der Geruch nach frischer Wäsche, die in der Sonne trocknet, der Genuss, eine gute Havanna zu rauchen, die kalte, glatte Rasur einer Solingen-Klinge auf der Wange, die Erfrischung von einem Glas Tamarindensaft, das man im Schatten trank, die Stimme seiner Mutter, wenn sie ihre Anekdoten von Kaiser Maximilians Seitensprüngen und Kaiserin Carlotas Frigidität zum Besten gab.
Eines Tages konnte Hauptmann Arnaud nicht mehr an sich halten, er explodierte vor Alicia und hörte nicht mehr auf zu reden, bis er seinem Kummer Luft gemacht hatte:
»Wir können nicht weiter so tun, als würde das Leben woanders stattfinden, oder als hätten wir es schon gelebt und könnten uns jetzt nur noch daran erinnern. Es kann doch nicht sein, dass das unser Leben ist, zusehen, wie Wasser vom Himmel fällt, zum Teufel noch mal, Wasser, Wasser, immer nur Wasser, und auf ein Schiff warten, das ohnehin nicht kommt, und jetzt auch noch die Reiskörner abzählen, die jedem zustehen. Oder einen Feind abwehren, der nicht anrückt, und Berichte über Vogelscheiße verfassen. Die militärische Pflicht ist das eine, die Berufung zum Mormonen etwas völlig anderes. Oder zum Idioten. Man hat schließlich das Recht, es sich auch mal gut gehen zu lassen, verfluchte Scheiße! Man hat doch auch das Recht auf Vergnügungen, darauf, mal über die Stränge zu schlagen: sich vollzufressen, Lärm zu machen, sich zu betrinken … Hier sind sogar Unterhaltungen mit Freunden ein Luxus! Ich will mal wieder Leute sehen, und wenn es dieser bescheuerte Deutsche ist, von dem ich kein Wort verstehe … «
Nach diesem Ausbruch erfand Ramón als einzig durchführbare Gegenmaßnahme die Freitagabendgesellschaften. Es war eine Art Stammtisch, der sich an einem Abend der Woche in seinem Haus versammelte. Auch wenn er künstlich wirkte und nur wenige Stunden in der Woche betraf – Ramón versuchte damit einen Zipfel ihres verlorenen Lebens zurückzuerobern. Die Gäste waren Leutnant Cardona und seine Frau Tirsa Redón, ein dunkelhäutiges Mädchen mit kräftigem Körperbau, schräg stehenden Augen und einem unbeugsamen Charakter. Und Gustavo Schultz mit seiner Adoptivfamilie, zu der eine Mulattin mit vollen Kurven und dem Namen Daría Pinzón zählte – die der Deutsche nach einem einsamen Jahr auf Clipperton in seinem Frauennotstand von der Insel Socorro mitgebracht hatte –, sowie Darías Tochter, eine verschlossene Zwölfjährige, die den Vornamen Jesusa erhalten und den Nachnamen Lacursa von wer weiß wem geerbt hatte.
Im Gegensatz zur franziskanischen Genügsamkeit der übrigen Tage wurden freitags sagenhafte Mengen an Mole poblano, Tacos, gefüllt mit einem huitlacoche genannten Kraut, an gebackenen schwarzen Bohnen, Blutwurst, Dörrfleisch und schwarzem Kaffee aufgetischt. Während die anderen sich jeden Bissen munden ließen, als wäre es der einzige und letzte, den sie zwischen die Zähne bekämen, stopfte Schultz alles unbesehen und mit geschlossenen Augen in sich hinein. Und sie meinten seinem Kauderwelsch zu entnehmen, dass er die Ansicht vertrat, man müsse Mexikaner sein, um so viel schwarzes Essen herunterzubekommen. Eine Bemerkung, die Ramón
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