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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Schrecken hin und her gerissen, mit flatterndem Herzen und einem Knoten im Magen, diesem höchst gewalttätigen und blutigen Akt der Fortpflanzung bei. Er sah den Kopf auftauchen und sich bis zur Stirn herausschieben, um sogleich wieder zurückzutauchen. Beim letzten Pressen trat er vollständig aus, feucht und schleimig, und Ramón konnte ihn mit den Händen fassen. Er sah das winzige Gesichtchen, das sich zur hässlichen Grimasse eines Erwachsenen verzog, und spürte, ohne ziehen zu müssen, wie hinter dem Kopf der übrige Körper, schnell und wendig wie eine Eidechse nach draußen flutschte. Er zählte fünf Fingerchen an jeder Hand, fünf Zehen an jedem Fuß und stellte fest, dass die Gesichtszüge, wenn auch von der Anstrengung des ersten Schreis verzerrt, vollkommen waren.
    Es war männlich, genauso wie Alicia es vorausgesagt hatte.
    »Es ist ein Junge«, verkündete er. »Es ist ein wunderschöner Junge.«
    Geschickt und mit sicherer Hand, als hätte er das schon viele Male getan, und von Juana assistiert, die ihm frische Messer holte und heißes Wasser brachte, schnitt und nähte Ramón, holte die Reste heraus und säuberte alles. Bevor er das Kind der Hebamme übergab, damit sie es untersuchte und wusch, hielt er inne und betrachtete es einige Augenblicke.
    Ein kleiner Marsmensch, dachte er. Ein kleiner erschrockener Marsmensch, frisch eingetroffen nach einer anstrengenden Reise.
    Dann streckte er sich neben Alicia aufs Bett, um auszuruhen, und Señora Juana reichte ihnen das Neugeborene. Jetzt, da es gewaschen in ein weißes Leinentuch gewickelt war, nicht mehr ganz so erschrocken dreinschaute und nicht mehr ganz so blau angelaufen war, ähnelte es schon eher einem Geschöpf dieser Welt. Aus dem Abgrund ihrer Erschöpfung betrachtete Alicia es in Liebe und in Furcht, mit zu viel Liebe und zu viel Furcht, genauso wie alle frisch entbundenen Frauen, Bärinnen, Tigerinnen und Katzen ihren Nachwuchs betrachten.
    »In einem habe ich mich geirrt«, sagte sie. »Er hat keinen runden Kopf, er ist spitz wie eine Zipfelmütze.«
    Aber sie hatte sich auch darin nicht geirrt. Als er den Mutterleib schon eine Weile verlassen und sich vom Kampf durch den engen Geburtskanal erholt hatte, verlor der noch weiche Kopf des Kindes sein nach oben zulaufendes Ende und wurde runder als ein Wollknäuel.
    Ramón zog eine Jalousie auf. Durch das geöffnete Fenster sahen sie den Himmel, hoch und wolkenlos und von einem strahlenden Blau überzogen. Alicia dachte an ihren Traum. Wie ein Schnappschuss tauchte in ihrem Geist die paradiesische Unterwasserwelt auf, von der sie geträumt hatte, und sie freute sich, wach zu sein.
    In diesem Augenblick fehlt nichts, dachte sie, das Leben ist angenehm und vollkommen.
    Sie betrachtete Ramón und das Kind, die beide schliefen. Sie hörte ihre ruhigen, leisen Atemzüge, dann dämmerte auch sie allmählich wieder ein.
    Stunden oder Minuten später wurden sie von Schreien aufgeschreckt. Vor dem Haus heulten Leute, schrien, liefen durcheinander. Sie öffneten die Augen und stellten fest, dass das stille hellblaue Himmelsquadrat, das sie durch das Fenster gesehen hatten, jetzt dunkel war, in Bewegung geriet, von Rosa nach Violett und von Violett in ein gefräßiges Tiefrot wechselte und alles verschluckte. Mit einem Mal verfinsterte sich der Tag. Die Schreie wurden immer schriller, kamen immer näher.
    Ramón eilte zur Haustür, sprang noch benommen die Treppe der Veranda hinunter, bahnte sich einen Weg durch die dichte Menschentraube, die ihm Platz machte, und sah in deren Mitte auf dem Boden, bedeckt mit geronnenem Blut, die Überreste eines Mannes. Es war der Leichnam von Jesús Neri, dem Mann der Hebamme Juana, ein alter Soldat, der schon länger auf Clipperton diente als die meisten anderen. Alle redeten gleichzeitig drauflos und erzählten Arnaud aufgeregt, was passiert war. Die verschiedenen Versionen stimmten nicht überein, widersprachen sich, jeder berichtete den Hergang anders.
    Der Alte hat bis zur Hüfte im Meer gestanden, bis zum Hals stand er im Meer. Er hat am Kai gestanden, nein, nicht so dicht am Ufer, er hat zehn Meter vom Kai weg gestanden. Er war dabei, aus seinem Kahn ein paar Fässer auszuladen, die er von einer anderen Stelle der Insel übers Wasser befördert hatte. Er beförderte gerade in seinem Kahn ein paar Fässer, die er an eine andere Stelle der Insel bringen wollte. Die fünf Fässer mit dem Kerosin. Nicht die mit dem Kerosin, es waren Fässer mit Süßwasser, der

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