Die Insel der Verlorenen - Roman
Beschluss, als dass sein Weg ihn von dort wegführte und er Schritt für Schritt die Lehmbehausungen, die Schafe, die Ziegen und die roten Erdschollen hinter sich ließ. Er marschierte quer durch die dichten Pinien- und Okotewälder, und als er am Horizont ankam, der von daheim aus aussah wie ein blauer Gebirgszug, stand er vor dem Kasernentor. Das Bataillon der Guardia Nacional war dort stationiert. Secundino schlüpfte hinein und stellte sich in den Pferdeställen in eine Ecke ohne das Wort an jemanden zu richten, weil er nur Tzeltal sprach. Er stand einfach da und wartete stundenlang, bis ihn jemand bemerkte und als Freiwilligen einstellte.
In der Kaserne wurde er erwachsen, er lernte Spanisch, Lesen und Schreiben. Und er lernte, in die Trompete zu stoßen, das Wecksignal, den Zapfenstreich, die Nachtruhe, und war mit dreizehn Jahren Trompeter. Womöglich hängt das damit zusammen, dass er in einem Dorf aufwuchs, wo Mandolinen und Trommeln hergestellt wurden, jedenfalls lag ihm die Musik im Blut und das Singen fiel ihm leicht. Alles andere wurde ihm dagegen schwer. Liest man die Berichte seiner Vorgesetzten, so erwies er sich beim Lernen als »störrisch« und die Disziplin reizte ihn zur Rebellion. Mit einer Ausnahme: der Musik, die war seine Gabe. In seiner Freizeit muss er später die Trompete gegen die Gitarre ausgetauscht haben, und die Militärsignale gegen Liebeslieder. Wenn er sang, gewann er an Präsenz und an Größe, vergaß seine Schüchternheit. Dann war er nicht mehr einer von vielen. Außerdem war er hübsch und lernte sich nach der Mode zu frisieren, sich den Schnurrbart zu stutzen und einen Schlafzimmerblick aufzusetzen, also so verschleiert dreinzuschauen, als sähe er nicht, was er gerade betrachtete. Er entdeckte die Vorzüge seiner Stimme und seines Aussehens, legte sich ein schweres Schicksal und einen Kummer zu und fand so seinen Stil. Er verliebte sich und suchte das Abenteuer, ein gewitzter Kerl, der den armen Tropf spielte, ein Kneipenbummler und Unruhestifter.
Mit 17 wurde er ins Bataillon der Öffentlichen Sicherheit nach Tuxtla Gutiérrez versetzt. Er war kein Kind mehr, sondern fast ein Mann, er war kein Indio mehr, aber ein Weißer war er auch nicht. Er hatte seinen Täuferkittel durch eine Soldatenuniform ersetzt, war zweisprachig, und verstand sich genauso darauf, indigene Mädchen verliebt zu machen wie mestizische Señoritas. Außerdem kannte er sich in der Rechtschreibung aus und hatte eine sichere, schnörkelige Handschrift, die ihm gestattete, in der Stadt, wo er diente, im Polizeipräsidium als Schreiber sein Brot zu verdienen. Als spanischsprachiger Indio war er ein Vermittler zwischen den indigenen und den lokalen Autoritäten. Secundino Ángel Cardona war jetzt keiner mehr von den Seinen, aber auch keiner von den anderen. Immerhin hatte er seine Stimme, sein Äußeres, die Gerissenheit der Klassenlosen und die praktische Intelligenz eines schweren Schicksals, das er für sich behielt, um durchs Leben zu kommen, ohne sich für irgendjemanden oder irgendetwas zu verpflichten.
Er durchlief mehr schlecht als recht eine Laufbahn beim Militär. War Gefreiter, Feldwebel, Oberfeldwebel und Unteroffizier der Hilfsinfanterie. Dann ging er nach Yucatán und führte Krieg gegen die Mayas, die sich gegen die Vorherrschaft der Weißen auflehnten. Dort entdeckte er, dass die Tage in Armut bei den Eltern und die Nächte in dreckigen Soldatenbaracken keineswegs die unterste Sprosse des Elends waren, wie er gedacht hatte, sondern erst die zweitunterste. Denn es war beim Einsatz seines Bataillons im Urwald von Yucatán, wo Secundino Ángel und seine Kameraden die dunkelsten Abgründe des Menschseins kennen lernen sollten.
Sie lagen gefangen in einem ausweglosen Labyrinth aus Sümpfen, kampflos besiegt durch Desorientierung, Sumpffieber, Gebirgsaussatz, Hitze und Schlangen, während der Feind den Urwald kannte wie seinen Handteller und ihnen, immun gegen Seuchen und Gifte, im Dickicht auflauerte.
Sie rückten als reguläres Heer mit der Schwerfälligkeit von Dickhäutern vor, während der Gegner sie mit Guerilla-Taktiken hetzte. Für sie war der Krieg bloß ein verfluchter Auftrag, eine scheußliche Pflichtübung, während die Mayas in ihrem Element waren und in ihrem heiligen Krieg so verbissen kämpften wie umzingelte Raubtiere, die wissen, dass sie töten müssen, um nicht selbst zu sterben.
Manchmal platzten den Soldaten die Eingeweide, wenn sie aus einem von den Indios vergifteten
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