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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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wie Rasiermesser zerschneiden, und glaubten, in der Luft den stinkenden Atem ihrer Mäuler zu riechen. Nachts hatten sie Albträume von Reißzähnen und Verstümmelungen, von Gespenstern, die Kinder entführten, und Haien, die Frauen zwangen, sich mit ihnen zu paaren oder in menschlicher Gestalt aus dem Meer stiegen und auf der Insel ihr Unwesen trieben.
    An den Mittwochvormittagen, wenn sie zusammen waren und sich die Haare bürsteten, da beschworen die Frauen ihre Angst mit solchen Geschichten, die bis zu diesem Zeitpunkt bloß fragwürdige Geschichten und beängstigende Träume gewesen waren – auf jeden Fall unwirklich.

Clipperton
    – 1909 –
    Alicia bewegte sich durch das warme Wasser, das an ihr vorüberzog wie eine durchsichtige blaue Gardine. Ihre Bewegungen im Wasser waren langsam und angenehm. Sie fühlte sich wohl in dieser lauen, blauen, durchscheinenden Welt aus flüssigen Mauern. Viele Meter über ihrem Kopf sah sie die glatte, glitzernde Oberfläche wie eine Silberfolie. Die Sonne, die von oben auf den Wasserrücken schien, platinierte ihn und verlieh ihm ein metallisches Glänzen, so dass er von unten wie ein umgekehrter Spiegel aussah, durchbrochen von Strahlen aus Licht und Wärme.
    Das besänftigende Geräusch anhaltenden Blubberns drang an ihr Ohr, wie das Kochgut in einem Topf auf dem Herd. Alicia spürte das Kitzeln der Bläschen, die in ihrer Kehle aufstiegen, in ihren Ohren rauschten, ihr Trommelfell liebkosten. Der Puls des Meeres wiegte sie, rhythmisch und zahm, begleitete sie wie der Herzschlag eines Riesentiers, eines unsichtbaren, schützenden Tieres, eines mächtigen, zahmen Raubtiers. Alicia bewegte sich unter Wasser und sah ganz weit oben die glitzernde Oberfläche. Aber sie wusste, dass sie nicht dorthin gelangen musste, dass sie nicht nach oben musste. Sie bewegte sich ohne Hast, ohne Dringlichkeit, ohne nach Luft zu ringen unter Wasser. Ihr Atem ging ruhig, tief, ihre Lungen füllten sich mit dem warmen Odem dieses großen Wesens. Ihr Herz pochte im Einklang mit ihm. Alles war gut, alles war durchsichtig. Alles war ruhig und sicher.
    Alles war gut, bis auf eines, was sie beunruhigte, ein Verdacht. Alicia ahnte, dass ihr irgendwo gefährliche Schatten auflauerten, kalt wie Stein, wie schwere, lebendige Steine, die das Sonnenlicht mieden und sie umkreisten, sie einschlossen. Sie schlichen sich an, warteten geduckt, um ihre Chance abzupassen, verdorben, verderblich.
    Abersiewussteauch,dasssieihrjetztnichtsanhabenkonnten.SolangesieunterWasserblieb,solangesienichtdenKopfzurhellenFlächeherausstreckte,konntensieihrnichtsanhaben.SolangesiesichimSchutzdiesesWesensaufhielt,geborgenimwarmenunterseeischenLicht,inderObhutdesmächtigen,zahmenWassers,würdensienichtwagen,sieanzurühren.
    Sie hätte für immer im zeit- und schwerelosen Frieden jenes großen Wasserbetts bleiben können, wenn sie nicht gegen ihren Willen langsam aufgewacht wäre. Sie fand sich in ihrem Bett wieder, unter dem riesigen Bauch mehr sitzend als liegend, und den Rücken mit mehreren Kissen gestützt, die ihr das Atmen erleichterten. Sie benötigte ein paar Sekunden, ehe sie begriff, dass die warme, feuchte Empfindung auf der Haut ihr eigenes Fruchtwasser war, die Blase war geplatzt und kündigte die bevorstehende Geburt an. Wenige Minuten später setzten die Wehen ein.
    Bis vor einigen Wochen war Ramón noch voller Zuversicht gewesen, was die Ankunft des Schiffes anging, damit er Alicia rechtzeitig nach Mexiko bringen könnte. Solange er sich im Rausch seiner Schatzsuche befand, hatte er keine Zeit gehabt, sich über die Verspätung den Kopf zu zerbrechen.
    Aber all seine Bemühungen, Pirat Clippertons mythische Reichtümer ausfindig zu machen, hatten sich als vergeblich erwiesen. Die zuerst erkundete Lagune war ein Reinfall und ihre darauffolgenden Nachforschungen am großen Südfelsen waren auch nicht von Erfolg gekrönt. Obwohl sie ihn Zentimeter für Zentimeter von innen und außen absuchten, fanden sie in zwei Wochen nichts weiter als Fossilien und Flechten, alte Schnecken, Riesenpilze und Lavagestein. Die Männer fluchten, machten sich aus irgendwelchen Fossilien oder einer Perlmuttschnecke ein Amulett und stiegen, einer nach dem anderen, aus dem Unternehmen aus.
    Als Erstes setzten sich die ab, die dem Märchen vom Schatz von vornherein skeptisch gegenüberstanden und nur aus Pflichtgefühl mitgemacht hatten. Dann die, denen das Ganze zwar nicht unmöglich, aber zweifelhaft vorgekommen war. Ein paar Tage

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