Die Insel der Verlorenen - Roman
Alte vom Kai wollte Trinkwasser zu seinem Haus bringen. Plötzlich sahen sie ihn wie wild herumfuchteln. Als Erster hat ihn Victoriano gesehen, als Erste hat ihn Faustinos Frau gesehen, es waren die Kinder, die mit ihrem Geschrei plötzlich Alarm geschlagen haben.
Der Alte ist untergegangen, wieder aus dem Wasser aufgetaucht, man hat seinen Kopf gesehen, seinen Rücken, die Arme, dann hat man sie nicht mehr gesehen. Ein Mantarochen greift ihn an, hat Victoriano gebrüllt, das müssen die Medusen sein, hat Faustinos Frau gekreischt. Die Kinder haben aufgeschrien. Fünf Männer, vier, sechs, nein: drei Männer und zwei Frauen sind hinunter zum Kai gelaufen. Sie haben gesehen, wie er um sich gebissen und getreten hat, um sich gegen die schwarzen Schatten, die auf ihn losgingen, zu wehren. Sie haben gesehen, dass er wehrlos war, dass er sich ergeben hatte, mit schmerzverzerrtem, hilflosem Gesicht um Vergebung bat, um Gnade flehte. Die Männer haben den Haifischschwarm mit Stockhieben vertrieben. Es waren drei Haie, es waren zwei Haie und ein Barrakuda, es war ein einziger riesiger Haifisch, es waren sechs, fünf schwarze und ein weißer. Das Wasser war schon rot vom Blut, als sie die Tiere in die Flucht geschlagen haben. Pedro ist es gelungen, einen mit der Harpune zu erwischen, Pedro hat einen mit der Harpune knapp verfehlt. Sie haben gerettet, was von Jesús übrig war. Als sie ihn herausgezogen haben, da war er schon tot. Als sie ihn herausgezogen haben, lebte er noch. Er hat noch einen Moment keuchend auf dem Kai gelegen, zur Guadalupe gebetet, nach seiner Frau Juana gerufen. Als er auf dem Kai gelegen hat, hat er keinen Laut mehr von sich gegeben, er ist einfach so gestorben, ohne ein Wort. Er hat mit dem, was von seinem Körper übrig war, versucht, sich aufzurichten, da schoss ihm ein Schwall Blut aus dem Mund und er ist gestorben. Er ist erst gestorben, dann ist ihm das Blut aus den Wunden, aus der Nase und aus dem Mund geflossen. Dann hatten sie ihn auf eine Decke gelegt, ihn bis zum Eingang von Arnauds Haus geschleppt und nach dem Hauptmann gerufen.
Ramón betrachtete wie unter Schock das Ausmaß der Zerstückelung, das Grauen jenes zerfetzten Körpers, die Katastrophe jenes zerrissenen Mannes. Er war zu nichts anderem imstande, als einfach dazustehen und ihn anzustarren. Die zupackende Art des Amateurarztes war wie weggeblasen, die Autorität des Gouverneurs von ihm abgefallen, die Fähigkeit, entschlossen zu reagieren war ihm abhanden gekommen. Er konnte nur dastehen und die Verwüstung anstarren. Der Eindruck der Geburt war noch zu frisch, die beiden Bilder überlagerten sich, vermischten sich, lähmten ihn. Doña Juana war neben dem Leichnam in die Hocke gegangen und weinte, seit jeher dem Tod ergeben, tränenlos in stummer Zweisamkeit mit dem Toten.
Endlich unterbrach Leutnant Cardonas Stimme die kollektive Hypnose der Leichenschau.
»Wir müssen ihn begraben«, sagte er.
»Wir müssen ihn begraben«, wiederholte Ramón mechanisch. »Und einen Friedhof anlegen.«
Clippertons dünne Erdschicht machte es unmöglich, den Mann zu beerdigen. Ihn mit ein paar Schaufeln Guano zuzudecken, erschien ihnen unhygienisch und gotteslästerlich; ein Loch in den Fels zu bohren, war dagegen eine mühselige Angelegenheit. Jemand schlug vor, ihn ins Wasser zu schmeißen, aber die Vorstellung, auch noch seine sterblichen Überreste den Haien zum Fraß vorzuwerfen, erfüllte Ramón mit Abscheu. Wenn er Seemann gewesen wäre und auf offener See verstorben, dann hätten sie das vielleicht in Erwägung ziehen können, aber der alte Jesús war Soldat und auf zwei Schritte Entfernung vom Land umgekommen.
Die Frauen verscheuchten die Schweine, die gierig schnüffelnd herbeikamen, und die Fliegen, die sich auf dem getrockneten Blut niederließen. In der stickigen, windstillen Abenddämmerung war der rasche Verfall des Leichnams schon bald zu riechen. Es musste schnell eine Lösung her. Nachdem er verschiedene Stellen geprüft hatte, entschied sich Arnaud für einen Winkel am Strand, unweit des Leuchtturms, wo das Wasser nicht hinkam. Hier war die Sandschicht so hoch und so locker, dass sie darin ein ausreichend tiefes Loch ausheben konnten. Dieser Platz sollte ihr Friedhof sein.
Sie zogen Jesús Neri, oder besser gesagt dem, was von ihm übrig war, ein Leichenhemd über, legten ihn in eine quadratische Kiste aus Pinienholz, eine jener, in denen das Schiff ihre Vorräte befördert hatte, und begruben ihn unter einem Kreuz aus
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