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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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später die Enthusiasten, die es sich gut vorstellen konnten, dann die überzeugten Fanatiker und zuallerletzt Arnaud, für den die Angelegenheit inzwischen etwas Ehrenrühriges bekommen hatte. Sie waren alle miteinander erschöpft, fühlten sich irgendwie gescheitert und hatten, durch den Dauerkontakt mit Fledermausurin und Krötenmilch, die Hände voller Schrunden und die Augen voller Gerstenkörner.
    Als der Juni kam, befanden sie sich bereits in einer kritischen Lage: Sie hatten die Zeit mit der Schatzsuche vergeudet, Alicia war im neunten Monat schwanger, und das Schiff hatte schon ganze fünf Monate Verspätung. Ramón sah voller Groll, wie sich die alte Geschichte seiner Angst wiederholte, das Herzrasen, die schlaflosen Nächte, in denen ein Erklärungsversuch nach dem anderen an ihm vorbeizog, das Flehen zum Himmel und das Fluchen auf Oberst Avalos, genauso und genauso sinnlos wie vorher. Ramón traf bewusst die Entscheidung, dem Spiel kein zweites Mal zu verfallen. Wenn das Schiff kam, gut; wenn nicht, dann würden sie ohne zurechtkommen. Eine Weile jedenfalls. Solange sie nicht starben. Er setzte sich Blutegel auf die Haut, damit sie ihm die vergiftete Galle und das böse Blut aus dem Körper saugten, ersetzte die Piratenschriften durch Medizinbücher und verbrachte seine Zeit damit, sich auf die Entbindung seines Kindes vorzubereiten. Doña Juana, die Frau von Jesús Neri, dem ältesten seiner Soldaten, war eine erfahrene Heilerin und Hebamme, und würde ihm zur Seite stehen.
    An dem Morgen, als Alicia in ihrem Fruchtwasser aufwachte, holte Ramón die vorbereiteten und desinfizierten Utensilien aus dem Schrank und ordnete alles auf seinem Entbindungstisch am Fußende des Bettes. Es waren weiße Tücher, die er stundenlang gekocht hatte, eine aseptische Seife, Alkohol, Schere und Zange, saubere Fäden, um die Nabelschnur abzubinden, zwei große Wannen, Nadeln und Darmfäden, um einen möglichen Riss zu nähen. Durch Tastbefund und mit dem Hörrohr stellte Ramón Arnaud fest, dass es dem Kind gut ging und es sich richtig ins Becken gesenkt hatte. Er sorgte dafür, dass Alicia auf frische Laken gebettet wurde, richtete ihr die Kissen und Decken und brachte ihr eine große Kanne frisches Wasser. Dann öffnete er alle Fenster, damit Luft hereinkam, ließ die Holzjalousien herunter, so dass das Zimmer im Halbdunkel lag, setzte sich zu seiner Frau aufs Bett und wartete auf die Geburt seines Kindes. Doña Juana wartete ihrerseits darauf, gerufen zu werden, wenn ihre Hilfe gebraucht wurde. Es war ein langes Warten, über zehn Stunden. Die Wehen kamen in langen Abständen und durchzuckten Alicia stoßartig, wie Stromschläge. Danach zogen sie sich wieder zurück und überließen ihren Körper einer schlaffen Ruhe, indes sich ihr Geist in einer Vorhölle verlor, wo jeglicher Bezug zur konkreten Welt verschwamm. Bis eine neue Wehe, die von ihrer tiefsten Leibesmitte ausging und bis zu den Lidern und jedem einzelnen ihrer zwanzig Nägel an Händen und Füßen reichte, sie jäh in die Wirklichkeit zurückriss, alle Fasern ihres Körpers spannte, sie mit brennenden Wellen durchwalkte,, um sich danach erneut zusammenzuziehen, den umgekehrten Weg zu nehmen, sich in Ruhe und Entspannung aufzulösen.
    Zwischen den Wehen füllte Ramón die Wasserkaraffe nach, streichelte ihr übers Haar, fächelte ihr Luft zu, damit ihr nicht zu heiß wurde. Manchmal überbrückten sie die Zeit, indem sie Dame oder Karten spielten und pausierten, sobald die Schmerzen anrollten. Als sich deren Häufigkeit steigerte, bis es am Ende nur noch ein einziger Schmerz mit kurzen Unterbrechungen war, und sich die Heftigkeit der Wehen verdreifachte, wussten die beiden, dass es so weit war.
    Alicia überließ sich einem eher tellurischen als menschlichen Impuls, der in ihrem Bauch losbrach und sie mit allen Sinnen völlig vereinnahmte. Obwohl die Wehen auf dem Höhepunkt waren, rückten sie in den Hintergrund, verblassten und verloren gegenüber dem übermächtigen Drang zu pressen an Bedeutung. Auch Angst und Ungewissheit der vorangehenden Stunden verflüchtigten sich im Nebel, als sich der ungebremste Schöpfungswillen aufbäumte und sich der blinde Glauben an die eigene Kraft mit Gewalt in ihr Bahn brach. Nach dem letzten Stoß, der schrecklicher war und endgültig, verfiel Alicia Rovira dem Rausch, der die Götter betäubt, wenn sie ihre höchste Gabe zum Einsatz bringen, nämlich die, Leben zu erschaffen.
    Ramón wohnte, zwischen Staunen und

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