Die Insel der Verlorenen - Roman
zwei Stöcken. In Ermangelung von Blumen legten sie ihm Palmwedel aufs Grab. Doña Juana hatte aufgehört zu weinen und begann leise, rhythmisch, gleichmäßig zu wehklagen. Arnaud sprach ein paar Worte:
»Heute, am 29. Juni 1909, haben sich bei uns auf Clipperton Leben und Tod eingestellt, zum ersten Mal, seit wir hier sind.«
Mexiko-Stadt
– heute –
Ich bin auf Spurensuche nach dem Leben von Leutnant Secundio Ángel Cardona Mayorga. Einem Leben, das ihn schließlich nach Clipperton führte. Ich habe von ihm ein Foto gefunden, es steht jetzt auf dem Schreibtisch vor mir. Und noch etwas habe ich gefunden, einen wahren Schatz: die vollständige Militärakte mit sämtlichen Eintragungen über ihn, vom Wehrdienst bis zum Tod.
Das in einem ländlichen Studio aufgenommene Foto zeigt im Hintergrund verblichene Brokatvorhänge, davor steht ein rundes Tischchen. Auf diesem liegt der Tschako neben der rechten Hand des Leutnants, die Fingerspitzen berühren die Tischplatte kaum. Die Linke umfasst den Schaft eines Säbels, dessen Spitze auf den Boden gestützt ist. Es ist deutlich zu sehen, dass der Mann in der Uniform, einem langen Waffenrock, mit einer Doppelreihe Goldknöpfe und einem breiten Gürtel, eine gute Figur hat und macht: martialisch, aber unverkrampft, ohne Steifheit. Ein wenig eingebildet vielleicht und pfiffig.
Er muss um die zwanzig sein. Hinter seinem verführerischen Blick und der Galauniform ahnt man die einfachen, indigenen Verhältnisse, aus denen er stammt. Der junge Mann wirkt etwas zu forsch für sein Alter und für seine bescheidene Herkunft.
Er trägt das dichte schwarze Haar zurückgekämmt, ist von dunkler Hautfarbe, hat eine gerade Nase, einen kantigen Kiefer, die indianischen Augen schauen nicht in die Kamera, sondern direkt daran vorbei nach links. Er hat attraktive gleichmäßige Gesichtszüge, mit Ausnahme der Ohren, zwei stattlichen Halbkreisen. Trotz der wohlbedachten Gepflegtheit seiner Erscheinung sind die Stiefel von einer grauen Staubschicht bedeckt. Es ist den Stiefeln anzusehen, dass sie weite Wege zurückgelegt haben und fest auf der Erde stehen.
Die Militärakte besteht aus rund hundert Berichten in unterschiedlichen Handschriften, unterzeichnet von Cardonas wechselnden Vorgesetzten. Sie widersprechen nicht dem Eindruck des Grünschnabels aus kleinen Verhältnissen, den der Leutnant vom Foto bei mir hinterlässt. Im Gegenteil.
Das Kind Secundino Ángel kam am 1. Juli 1887 im Staat Chiapas zur Welt, am Stadtrand von San Cristóbal, einer kolonialen Enklave, die ein weitläufiges indianisches Territorium beherrschte. In ihren – zur Huldigung der Guadalupe – blau gestrichenen Häusern wohnten weiße Akademiker und Kirchenleute, während die Indios in den Straßen der Stadt Handel trieben, sich von Vermittlern als Handlanger anwerben ließen, sich an Alkohol und Äther berauschten, um am Ende schlafend, ohnmächtig oder tot zu Boden zu sinken.
Im Gewühl der Chamula-Indios, die sich im Lehm und im Mist des großen Platzes niederließen, war der kleine Secundino einer von vielen, mickrig, dreckig, unauffällig, so hing er am Zipfel der dunklen Wollkleider seiner Mutter Gregoria Mayorga.
Er war nur ein Kind von vielen und teilte die Kümmernisse und Enttäuschungen der Erwachsenen, wenn er wie sie mit einem Packen Reisig auf dem Rücken die Berge hinauf- und hinuntertrabte, immer hinter dem Vater her, der Rodolfo Cardona hieß und ein Chamula-Indio war wie alle: klein und kräftig, mit störrischem Haar und zahmen Augen. Seine Tracht bestand aus einem kurzen Kittel, der die Beine unbedeckt ließ, einem Umhang aus Ziegenfell für die Schultern und einem zusammengerollten weißen Tuch auf dem Kopf. Er kleidete sich nach dem Vorbild ihres Schutzpatrons, Johannes des Täufers, wie in jener Gebirgsgegend üblich, wo die Heiligen die Mode diktierten. Was den Chamulas Johannes der Täufer, das galt den Pedranos, deren Alltagskleidung aus Umhang, Futterbeutel und Kittel bestand, der heilige Petrus, und den Huaxteken der Erzengel Michael, von dem sie den Umhang und die Pumphosen übernahmen.
Wie sein Vater Rodolfo und seine Mutter Gregoria, war auch der kleine Secundino Analphabet und sprach kein Spanisch. Dafür konnte er mit zwölf Jahren schon den Hunger abwehren, die Einsamkeit ertragen und die Angst herunterschlucken und beschloss, die Heimat zu verlassen, wo das Leben eines Erwachsenen nichts und das eines Kind erst recht nichts galt. Eigentlich war es nicht so sehr ein
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