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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Die Kadetten der Marineschule leisteten ihnen zwölf Stunden Widerstand, bis die Amerikaner am 22. April den Marktplatz einnahmen, nachdem 126 Mexikaner bei der Verteidigung des Vaterlandes gefallen waren. Tausende von Mexikanern aus dem ganzen Land schlossen sich da als Freiwillige Huertas Truppen an, um die Besatzer aus dem Land zu vertreiben. Die Revolutionäre von Venustiano Carranza, die inzwischen das halbe Territorium des Landes unter Kontrolle hatten, verurteilten den ausländischen Überfall ebenso.
    »Wie kommt dein Vater darauf, dass wir mit dem Schiff zurückfahren werden?«
    »Er geht davon aus, dass kein mexikanisches Schiff mehr herkommen wird.«
    »Was heißt das, dass keins mehr kommen wird? Mir hat niemand den Befehl erteilt, den Rückzug anzutreten … «
    »Sie haben dir weder den Befehl gegeben, den Rückzug anzutreten, noch erteilen sie dir den Befehl, hierzublieben. Weißt du was, Ramón, ich glaube, dass es ihnen im Grunde egal ist. Bei dem Durcheinander zu Hause haben sie uns wahrscheinlich längst vergessen.«
    »Nordamerika marschiert bei uns ein, ganz Mexiko leistet Widerstand, und ich soll ihnen Clipperton überlassen, ohne dass sie auch nur einen einzigen Schuss abfeuern müssen? Ist es das, was du von mir verlangst?«
    »Ich verlange gar nichts von dir. Ich habe noch nie etwas von dir verlangt«, gab Alicia mit zitternder Stimme zurück und brach in Tränen aus. Zunächst war es ein stilles Weinen mit Unterbrechungen, um sich die Augen zu wischen und ins Taschentuch zu schnäuzen. Aber dann nahmen ihr Kummer und ihre Schluchzer von selbst Fahrt auf, bis sie schon bald unkontrollierbar waren.
    »Weine einfach«, ermunterte Arnaud sie, »und lass den seit sechs Jahren heruntergeschluckten Kummer einfach raus.«
    Dann konnte sie endlich wieder sprechen.
    »Ich habe dich nie gebeten, von hier fortzugehen, und ich werde es auch jetzt nicht tun. Aber du begreifst scheinbar nicht, dass es mich traurig macht, wenn ich mir meinen Vater vorstelle, wie er am Hafen steht und auf uns wartet. Anscheinend verstehst du nicht, dass es mir das Herz bricht, wenn ich daran denke, dass die schlecht erzogenen, unterernährten Wilden, die da draußen herumtollen, meine eigenen Kinder sind. Anscheinend verstehst du nicht, dass ich fürchte, es könnte für uns die letzte Gelegenheit sein, hier wegzukommen, und wenn wir die nicht ergreifen, dass wir dann vielleicht für immer hierbleiben müssen und hier sterben … «
    Alicia hätte Stunden so weiterreden, klagen, ihr Schicksal verfluchen, ihrem Mann alles an den Kopf werfen können, was sie in ihrer sechsjährigen Ehe und ihrem sechsjährigen Inselaufenthalt nie ausgesprochen hatte. Da kam Kapitän Jens Jensen auf sie zu. Frisch rasiert und gekämmt, so dass Arnaud sich eingeschüchtert fühlte von seiner wiedererlangten Ausstrahlung eines zivilisierten Menschen.
    »Sei ruhig, Liebste, da kommt Jensen«, unterbrach er sie. »Sag ihm, dass ich nicht da bin. Ich will nicht mit ihm reden, solange ich nicht weiß, was ich tun soll.«
    »Und wenn er mich fragt, wo du bist?«, Alicia hickste noch, ihre Augen waren gerötet, die Nase geschwollen.
    »Sag ihm, ich wäre zu einer Gala gegangen. Oder besser auf die Pferderennbahn.«
    »Und ich? Mich soll er so verheult sehen!?«, schrie sie hinter Ramón her, der ihr schon den Rücken zukehrte und davoneilte. »Genau, Jensen soll mich so sehen, sie sollen mich alle heulen sehen! Ich habe es satt, so zu tun als wäre ich glücklich!«
    Arnaud verschwand hinter dem Haus und entfernte sich mit großen Schritten über den beweglichen roten Teppich aus Landkrabben. Jedes Mal, wenn er den Fuß aufsetzte, zertrat er mehrere, und das Krachen ihrer Krusten griff seine Nerven an. Am Mundwinkel entstand das erste Zucken eines Tics und schon kurze Zeit später verzog sich sein Gesicht in regelmäßigen Abständen unwillkürlich zur Grimasse.
    Er versuchte zu denken, er musste sich Klarheit verschaffen, aber sein Verstand versagte ihm den Dienst, war einfach stehengeblieben wie eine Uhr, die man vergisst aufzuziehen. War die Lage wirklich so drastisch wie sein Schwiegervater sie beschrieb? War ihre Alternative schwarz oder weiß – gehen oder für immer dableiben – oder gab es Zwischentöne, die Don Félix in seiner väterlichen Angst nicht sehen konnte? Standen der Sturz von Huerta und der Zusammenbruch der Bundesarmee unmittelbar bevor? Don Félix war seit jeher für die Aufständischen, was ihn dazu verleitete, ihnen mehr

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