Die Insel der Verlorenen - Roman
ihn holen gekommen. Er fährt noch heute zum Teufel, der Irre.«
»So kannst du ihn nicht mitnehmen, Irra«, widersprach sie, »lass ihn wenigstens was anziehen. Du hast wohl keinen Respekt vor einem Menschen?«
»Dieser Mensch ist wilder als ein wildes Tier.«
»Die wilden Tiere, das seid ihr«, murmelte sie, und während die Soldaten den Deutschen mit Gewalt mitzerrten, zog sie ihm, so gut sie eben konnte, Hemd und Hose an.
Schultz stimmte in blinder Wut ein ohrenbetäubendes Gebrüll an. Alle hörten sie seine Schreie an den Steilküsten widerhallen, aber nur Altagracia vernahm das verhaltene, trockene Krachen, das sich seiner Brust entrang wie ein Seufzer.
»Sie haben dir das Herz gebrochen, Blonder«, sagte sie zu ihm.
Auf der anderen Seite der Insel fand Ramón Arnaud seine Frau. Sie hatte aufgehört zu weinen. Mit dem Besen in der Hand kehrte sie die windschiefe Veranda ihres Hauses.
»Wieso kehrst du?«, fragte er.
»Weil ich weiß, was du mir sagen willst. Und wenn wir an diesem Ort weiterleben müssen, dann will ich wenigstens, dass es sauber ist.«
»Komm her, ich möchte dir etwas erklären.«
Sie setzten sich auf den Boden der Terrasse, die nach Osten ging, wo einst die Hängematte zur Betrachtung des Sonnenaufgangs gehangen hatte.
»Alicia, erinnerst du dich, als ich dir einmal gesagt habe, dass es mir nichts ausmacht, weil ich wusste, dass es nicht mein Krieg war? Nun und diesmal empfinde ich es anders, ich fühle, dass dies mein Krieg ist. Ich weiß immer noch nicht, ob wir gehen oder bleiben sollen, das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass ich diesen Krieg führen muss.«
Am Kai begegnete Arnaud Cardona, der zwischen Stapeln von Holzkisten hin- und herhumpelte und in einem Heft Buch führte.
»Es sind 200 Kisten, Ramón«, schrie der Leutnant begeistert. »Es ist Trockenfleisch dabei, Zwieback, Würste, Butter, Kaffee, alles, was das Herz begehrt, damit können wir uns weitere drei Monate über Wasser halten.«
»Damit haben wir wenigstens Zeit, uns zu überlegen, ob wir dableiben oder gehen.«
»Was ich nicht verstehe, ist, wer diese Vorräte für wen hergeschickt hat.«
»Na, wer schon? Die mexikanischen Streitkräfte natürlich, und zwar für uns.«
»Das glaube ich nicht, Ramón. Soweit mein Englisch reicht, sind die eher vom britischen Konsul, und zwar für Gustavo Schultz.«
»Dann soll er sie uns als sein Erbe dalassen. Sind Zitrusfrüchte dabei?«, fragte Arnaud.
»Habe keine gesehen.«
»Nicht gut.«
Arnaud stieg ins Boot und ließ sich zur Cleveland übersetzen. Er wusste immer noch nicht, was er sagen würde und unterwegs konnte er nicht nachdenken. Um fünfzehn Uhr zwanzig ging er an Bord und wurde von Kapitän Williams in dessen Privatkabine, neben seiner Kajüte, empfangen. Es war ein intimer Salon, klein, mit Zedernholz verkleidet, nach edlen Hölzern und feinem Tabak duftend. Der Schreibtisch war mit Federhalter und Tintenfass ausgestattet sowie mit einem Apparat von so neuartigem Aussehen, dass Arnaud eine Weile brauchte, ehe er begriff: Das war eine Schreibmaschine. Die nüchternen, gut gepolsterten Sitzmöbel waren mit weinrotem Velours bezogen und sahen aus wie neu, ein Perserteppich bedeckte den Boden, eine Lampe aus Kupfer und Opalglas ersetzte das Tageslicht, in einer Ecke stand eine Truhe aus punziertem Leder und gegenüber lag auf einem ungenutzten gusseisernen Ofen ein Stapel Bücher.
Kapitän Williams selbst schien, was sein Äußeres anging, wesentlich besser in dieses behagliche, persönliche Ambiente zu passen als in die kalte Härte des übrigen Kriegsschiffs unter seinem Kommando. Er war ein älterer Herr mit feinen Zügen und einer weißen Haut, die noch nie einen Sonnenstrahl oder eine Seebrise abbekommen zu haben schien. Er trug eine Brille mit sehr dünnem Rand und roch diskret nach Kölnischwasser. Er lud Arnaud ein, Platz zu nehmen und bot ihm ein Glas Cognac und eine Tasse Kaffee an.
Derweil sie protokollarische Floskeln austauschten, befühlte Arnaud mit der Hand das Velours, das Leder, das warme Kristall seines Glases, und seine Nase roch das Holz, das Kölnischwasser, den Tabak, als wollten sich seine Sinne die Erinnerung an vergessene Texturen und Düfte wieder ins Gedächtnis rufen. Da merkte Arnaud, wie ihn eine lästige Wehmut nach besseren Welten beschlich. Er fühlte sich schmutzig, ungekämmt und stinkend und hatte plötzlich den irrationalen Drang aufzustehen und zu gehen. Er wusste, warum er das Gespräch so lange
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