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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Bedeutung beizumessen, als sie hatten. Oder schätzte er die Lage diesmal richtig ein? Der Einmarsch einer ausländischen Macht änderte die Dinge allerdings, musste sie ändern, denn angesichts der Bedrohung von außen würden die internen Differenzen verschwinden. Oder doch nicht? Dieser Carranza würde General Huerta in Ruhe lassen, solange sie gemeinsame Sache gegen die Besatzer machten. Oder etwa nicht? Wenn die mexikanische Bundesarmee besiegt würde, was hatte er, Ramón Arnaud, dann noch auf Clipperton zu suchen? Was hatte er hier überhaupt zu suchen, während sich Avalos und die anderen absetzten? Andererseits, dachte er, sind es die Ratten, die das sinkende Schiff verlassen … Arnaud fehlten Informationen, ihm schwirrte der Kopf, seine Gedanken drehten leer, er versuchte sich was zusammenzureimen, zu raten, er las noch mehrere Male den Brief und die Zeitungsausschnitte, durchleuchtete jeden Satz und erforschte jedes Wort auf der Suche nach einer Lösung.
    TausendBilderblitzteninseinemGeistauf,erhitztenseineHirnmassefastbiszurVerzweiflung.Aberzweiwarenamschärfsten,ampenetrantesten,drängtendieanderenindenHintergrund.Siewarenwidersprüchlich,unvereinbar,einswürdedasandereausstechenmüssen,weilsienichtzusammenpassten,undwennsieumdasVorrechtkämpften,würdeihmder Kopf platzen wie den Landkrabben unter seinen Füßen.
    Eins zeigte ihm die weinende Alicia und seine verlassenen, verwilderten, verhungerten und kranken Kinder.
    »Ich kann nicht hierbleiben«, sagte er laut. »Ich kann nicht hierbleiben.«
    Auf dem anderen erschien er selbst, Jahre zuvor, an der schwarzen Gefängnismauer von Santiago Tlatelolco, als er seinen Eid schwor: »Das nächste Mal lass ich mich nicht abschrecken. Komme was wolle, das nächste Mal halte ich durch. Lieber tot als gedemütigt, tausendmal lieber tot.«
    »Ich kann nicht hier weg«, sagte er zu sich selbst. »Ich kann nicht hier weg.«
    Er ging Cardona suchen. Und fand ihn im Guano-Schuppen, wo er mit ein paar Stöcken, die ihm als Krücken dienten, die ersten Gehversuche unternahm.
    »Setz dich, Cardona. Und hör zu, was ich dir zu sagen habe.«
    »Ein Gringo-Schiff ist gekommen, um die Holländer zu retten, stimmt’s?«, fragte der Leutnant.
    »Ja.«
    »Dann haben es die vier in ihrem Boot also bis nach Acapulco geschafft … «
    »Schon, aber nicht alle. Nur drei. Einer ist auf der Strecke geblieben.«
    »Da sind sie aber noch gut weggekommen. Und wer war der Pechvogel?«
    »Weiß ich noch nicht.«
    »Noch ein Holländer, der da draußen sein Unwesen treibt, glühendes Eisen frisst und Galle trinkt … «
    »Möge er in Frieden ruhen.«
    »Also hör mal, glaubst du wirklich, dass einer, der so stirbt und keine christliche Bestattung kriegt, in Frieden ruht, Ramón? Ich wäre jedenfalls nicht wild darauf, bis in alle Ewigkeit im Wasser zu treiben … «
    »Keine Ahnung. Aber ich habe ein anderes Problem. Secundino. Hör zu.«
    Ramón las ihm den Brief seines Schwiegervaters vor und dann die Zeitungsberichte von der Invasion. Cardona gab keinen Mucks von sich, bis er fertig war.
    »Einundzwanzig Kanonenschüsse wollen Sie? Selbstverständlich. Sofort. Nur ein kleines Augenblickchen … «
    »Der Kapitän der Cleveland bietet an, auch uns nach Acapulco mitzunehmen. Du hast die Meinung meines Schwiegervaters gehört: Wenn nicht jetzt, wann dann? Andererseits sind die, die uns hier retten, die Gleichen, die da unten einmarschieren. Es ist eine schwierige Entscheidung, und ich komme, weil ich deinen Rat brauche.«
    Cardona kratzte sich am Kopf.
    »Was ist, wenn wir mitfahren? Warte … ich meine, für ein paar Tage, um Oberst Avalos zu suchen oder jemand anderen, der uns sagt, was Sache ist, der uns erzählt, was sie für Pläne haben … Weil so wie im Moment geht es irgendwie auch nicht weiter, Mann. Wir hausen hier wie die Obdachlosen … «
    »Und was, wenn das ganze Manöver nur eine Falle des Feindes ist?«
    »Mir kommt es eher vor wie eine Falle von Freunden … Von welchem Feind denn? Von den Gringos oder von den Franzosen? Ich dachte, wir sollten die Insel hier gegen die Franzosen verteidigen, oder nicht?«
    »Wie es aussieht, verteidigen wir gerade ganz Mexiko gegen die Gringos … Ich weiß auch nicht, Cardona«, sagte Ramón, richtete sich auf und fuhr mit tiefer Stimme fort: »Ich habe den Eindruck, es ist unsere Bruderpflicht gegenüber den 126 Gefallenen von Veracruz, hierzubleiben.«
    »Stimmt«, überlegte Cardona einen Moment. »Obwohl sie ja in Veracruz

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