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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Sonnenstich, mit vor Müdigkeit schmerzenden Gliedern und entmutigt von all den vergeblichen Anstrengungen auf den Strand. In der ersten Woche hungerten sie, weil sie bloß ein paar Aale, einen Tintenfisch und einen kleinen Rochen zu fangen bekamen.
    Es waren die Kinder, die herausfanden, wie man am einfachsten zu Fisch kam. Als die Frauen eines Tages mit leeren Händen vom Meer zurückkehrten, hockten die Kinder um ein halbes Dutzend Sardinen herum, die quicklebendig mit den Schwänzen zappelten.
    »Wer hat euch die denn gegeben?«
    »Niemand. Wir haben sie den Vögeln weggenommen.«
    Sie sahen die Kinder, wie sie gebräunt und elastisch blitzschnell über den Strand flitzten. Wenn ein Tölpel mit dem Schnabel ins Meer tauchte und einen Fisch zum Vorschein brachte, liefen sie hinterher, im Zickzack, kreuz und quer springend, dann stürzten sie sich auf ihn, hielten ihn an den Beinen fest und schüttelten ihn so lange kopfüber, bis er die Beute fallen ließ. Dann kamen sie strahlend mit dem glitzernden Fisch in der Hand angelaufen. Die Frauen lachten – es war schön, sie so rennen zu sehen, und es war lustig, sie die hässlichen Vögel so austricksen zu sehen – und versuchten es ihnen nachzutun, konnten es aber nicht. Sie waren nicht so flink wie die Kinder. Alicia und Francisca liefen hinter demselben Vogel her, stolperten übereinander und rollten über den Boden. Der Vogel schlug mit den Flügeln, Alicia richtete sich auf, fand wieder Halt unter den Füßen, warf sich auf den Tölpel und entriss ihm gerade noch ein paar Federn, dann landete sie wieder auf dem Bauch. Als sie dalag und die Kinder schreiend und in die Hände klatschend um sie herumsprangen, begriff sie, was ihr vor einer Minute noch unvorstellbar war. Ihr wurde klar, dass sie trotz allem glücklich sein konnte. Aber dann hatte sie ein schlechtes Gewissen wegen Ramón, erhob sich auf der Stelle und schüttelte den Sand aus den Haaren. An diesem Abend machten sie ein Feuer am Ufer und grillten mehr Fisch als sie essen konnten.
    Mit der Zeit perfektionierten sie weitere Angelmethoden. Die beste bestand darin, sich bäuchlings auf den Kai zu legen und mit einem angespitzten Stock kampfbereit abzuwarten, bis ein dicker Fisch kam und dort in Deckung ging. Zwischen den kaputten Latten war es keine große Kunst, ihn mit der primitiven Harpune zu überraschen. Auf diese Weise bekamen sie Sägefisch, Wolfsbarsch, Tigerfisch und Plattfisch. Alicia übernahm wieder die Rolle der Lehrerin, sowohl die Kinder als auch die Frauen mussten jeden Tag an ihrem Unterricht teilnehmen. Statt mit Stift und Papier, schrieben sie mit Stöckchen in den Sand. Da sämtliche Bücher dem Orkan zum Opfer gefallen waren, bestand ihre Lektüre aus den noch vorhandenen Rechnungsbüchern der Guano-Gesellschaft und einigen alten Zeitungsausschnitten über den Einmarsch in Veracruz. Sie konjugierten englische und französische Verben, lernten Religion, Manieren und Weltläufigkeit.
    Vor langer Zeit hatte Ramón den fehlenden Kalender durch Kerben ersetzt, die er mit dem Küchenmesser ins Geländer ihres Hauses ritzte. Nach seinem Tod hatte Alicia keinen Gedanken mehr darauf verwendet, die Tage zu vermerken. Jetzt wollte sie mit der Zählung fortfahren, wusste aber nicht genau, wie viel Zeit seitdem vergangen war. Nach ihrer Einschätzung war es ein Monat, Tirsa glaubte aber, es wären fünfundzwanzig Tage. Sie einigten sich auf die Mitte und ritzten 28 Striche ins Holz.
    »Keine Ahnung, was für den Rest der Welt gilt«, verkündete Alicia, »hier ist jedenfalls Dienstag, der 24. Juni 1915.«
    Mit der Schule, der Versorgung der Kinder und der schweren körperlichen Arbeit waren ihre Tage ausgefüllt und einer nach dem anderen verging, ohne dass sie Zeit hatten, sich mit den zurückliegenden oder vor ihnen liegenden zu befassen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hielten sie damit den Albtraum, in dem sie gefangen waren, auf Abstand, und machten ihn erträglich.
    Das galt wenigstens tagsüber. Die Nächte senkten sich dagegen bleischwer auf sie und peinigten sie mit der Wiederkehr sämtlicher Ängste und Nöte. Aus diesem Grund zog sich ihre triste Unterhaltung im kalten Sternenlicht meist bis zum Morgengrauen hin. Die Kinder klammerten sich schreckhaft an die Frauen und schlummerten nur in deren Schößen ein, während diese trotz ihrer Erschöpfung keinen Schlaf fanden. In der Finsternis wogen die Erinnerungen so schwer, dass die Vergangenheit gegenwärtig wurde und die Toten

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