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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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zurückkehrten, erst einer und dann der Nächste, bis sie das ganze Haus bevölkerten, und sich die Lebenden in den Ecken zusammendrängen mussten, um ihnen Platz zu machen.
    Von Neuem erschollen die Klagen der Geißler und das Heulen der vom Skorbut vernichteten Brüder Irra. Es erschienen Jesús Neri, den die Haie zerfetzt hatten, und seine Frau Juana, umgeben von einem widerlichen Gestank. Aber es gab auch willkommene Gäste, darunter Ramón und Cardona, die sich über ihren eigenen Tod unterhielten. Ihre Stimmen waren in der Schwärze zu vernehmen, wie in den glücklichen Tagen, als sie in der Abenddämmerung zusammengesessen hatten.
    »Ramón, ich sage dir, da ist kein Schiff.«
    »Siehst du es denn nicht, Secundino, da hinten ist es doch, silbrig, es ist beleuchtet und wartet auf uns.«
    »Das ist kein Schiff, Ramón, es ist der Teufelsrochen, der uns umgebracht hat.«
    »Das war kein Teufelsrochen, Secundino, es waren Haie.«
    Alicia, für die Ramóns Tod tagsüber eine unangefochtene Tatsache war, ließ sich nachts von diesen Trugbildern verwirren und setzte sich alsbald recht häufig ins Mondlicht, um aufs Meer hinauszusehen und auf sein Kommen zu warten. Nicht einmal Tirsa – die Harte, die nichts aufs Fabulieren gab und kein Jenseits kannte – vermochte sich jenem kollektiven Betrug zu entziehen, wo die Lebenden mit den Toten zusammenwohnten.
    »Heute Nacht ist Secundino gekommen und hat mich getröstet«, sagte sie einmal zu Alicia.
    »Und, was hat er gesagt?«
    »Kein Übel währt hundert Jahre, das würde kein Körper aushalten.«
    »Recht hat er.«
    Die Seelen von Pedrito Carvajal, Arnulfo Pérez, Faustino Almazán und anderen Soldaten drangen um Mitternacht durch die Ritzen im Dach, breiteten eine graue sarape über den Boden, begannen mit ihren anzüglichen Wortspielen, dazu tranken sie sotol , selbstgebrannten Agavenschnaps, und füllten das Haus mit Geschrei.
    »Los, macht das Geld locker, ich habe nämlich den König und den Buben.«
    »Den kannst du dir in deine Vierbuchstaben schieben, weil hier das Kelch-As ist.«
    Außer von den Toten wurden sie auch von ihren Schreckensgeschichten in Bann gehalten. Jede trug die dazu bei, die in ihrem Heimatdorf und ihrer Familie kursierten. Zunächst erzählten sich die Frauen die Gruseleien zum Zeitvertreib, um alte Kindheitsängste auszutauschen. Aber Clipperton bot mit seiner nächtlichen Trostlosigkeit den richtigen Nährboden, damit jedes Gespenst Form annahm. Alicia beschwor aus dem Totenreich die Trolle, chaneques genannt, die von sieben Dolchen durchbohrte Schmerzensfrau und die ruhelose Seele der Nonne Alférez, die der Tod auf Clipperton nicht im Pferdewagen holte wie in Orizaba, sondern im Schiff des Fliegenden Holländers. Tirsa hatte sämtliche Gestalten parat, die Cardona aus dem Land der Chamulas mit auf die Insel gebracht hatte. Am meisten fürchteten sie sich indes vor Yalambequet , einem fliegenden Skelett, das unbemerkt in die Häuser eindrang, um die Seelen zu rauben, und seine Anwesenheit mit dem Klappern in der Luft zusammenschlagender Knochen ankündigte.
    »Da fliegt Yalambequet . Gnade uns Gott«, lernten Frauen und Kinder sagen, wenn ein Sturm aufkam und ebenso, wenn keiner aufkam, damit sie gewappnet waren, falls sich der Unhold unangekündigt näherte.
    Sie sahen die Heulsuse – bildschön und phosphoreszierend, mit Lilien bepackt und den nackten Leib in einen breiten Schal gewickelt – , wie sie mit lautem Wehgeschrei über den Verlust ihrer Kinder vorüberzog und mit dem langen Haar ihre Gesichter streifte. Sie sahen Doña Carlota, Ramóns Mutter, in einem langen weißen Nachthemd und dem schwarzen Federhut erscheinen, um sich darüber zu beschweren, wie verwahrlost und unterernährt ihre Enkel waren. Und sie sahen recht häufig eine braun gekleidete, stille, liebenswürdige Dame, mit der keine von ihnen zu Lebzeiten Bekanntschaft geschlossen hatte. Denn auch Clipperton besaß seine Gespenster, darunter Ferdinand Magellan, den Seefahrer, der dem Flecken den Namen Isla de la Pasión gab, wegen der vielen Leiden und Krankheiten, von denen seine Mannschaft heimgesucht wurde, als sie davor kreuzten. Und Pirat John Clipperton, der an sein Lieblingsversteck zurückkehrte, um längst gefeierte Orgien neu zu inszenieren und den Frauen mit dem Klirren zerbrochener Gläser, dem Gelächter von Huren und dem Rasseln von Säbeln den Schlaf zu rauben.
    Der Horizont füllte sich mit Gespensterschiffen. Zu dem des Fliegenden Holländers

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