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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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loser, sehr feiner Sand, den der Sturm trocknete und weit ins Land hineinblies. Fast die ganze Insel war von nun an mit Sand bedeckt. Jeder fragte sich, wer das verschuldet hätte. Da sagte die weiseste Frau der Insel:
    ›Der fremde Mann, den wir begraben haben, ist ein Wassermann gewesen. Er kann nicht wieder ins Wasser zurück. Deshalb kommt das Wasser und holt ihn. Lasst uns den Sarg öffnen. Wir müssen uns beeilen und ihn dorthin bringen, wo er hergekommen ist.‹
    Die Männer gruben den Toten aus und luden ihn auf einen Ochsenkarren. Mit erhobenen Schwänzen jagten die Ochsen auf das Meer zu, wo die Wellen sie samt Wagen und Wassermann verschlangen.
    Seit dieser Stunde blieb die Wasser-und Sandflut aus. Nur die Dünen, die der Sturm einmal aufgetürmt hatte, blieben stehen. Und mit den Dünen kamen die Inselgeister, die lebenden wie die toten, die Zwerge, Hexen und Zauberweiber, sie alle bauten sich Höhlen und verborgene Schlupfwinkel inmitten der Inselberge.«
    Lorenzen fixierte Andreas Hartmann mit seinen lichtgrauen Augen. »Sagen Sie nicht, dass ich Sie nicht gewarnt hätte. Man darf sie nicht stören. Keinen Schritt würde ich mehr in die Grube tun.« Plötzlich lachte er. »Na, noch ist Ihr Kopf ja dran. Also, ich komm mal wieder vorbei und seh nach dem Rechten. Ich muss jetzt gehen, sonst verpasse ich die Krabben.«
     

5
    Keike, Stine und Medje standen hüfttief im Wasser, um Krabben zu fangen. Sie wateten durch die Priele, schoben den Netzrahmen vor sich her, den Stiel gegen den Leib gestemmt. Das Wasser war eiskalt. Ihre Kleider durchnässt. Sie froren erbärmlich. Medje war eigentlich schon viel zu alt für diese Arbeit. Ihre Knochen und Gelenke schmerzten. Das kalte Wasser war für alle Frauen ungesund. Früher oder später kam das Muskelreißen. Oder sie kriegten es an den Nieren. Einige starben daran. Aber noch lebten sie und sie mussten essen. Das Waten lohnte sich. Sie füllten die Krabben in die Körbe.
    Seenebel zog auf. Sofort machten sie sich auf den Rückweg. Als sie das Ufer erreicht hatten, konnte man den Nebel mit Kübeln schöpfen. In dichten, weißen Schwaden lastete er auf der Insel. Sie liefen nach Hause, zogen sich trockene Kleider an. Auch Keike zog sich um. Dann schürte sie das Feuer und kochte ihren Anteil der Krabben.
    Die Kinder halfen beim Pulen. Vor ihnen häuften sich die Schalen. Keike schaffte einen halben Eimer in der Stunde. Die Mädchen waren langsamer. Ein Gedanke blitzte in Keike auf. Sie schmunzelte. Einen Teil der Krabben briet sie in der Pfanne. Sie aßen sie mit Brot und Rührei. Das war ein Festessen. Die Kinder durften essen, soviel sie wollten. Ihre Wangen glühten. Keike stellte noch Krabben für Frikadellen beiseite. Der Rest wurde haltbar gemacht. Sie holte drei Tonkrüge, Salz und Schafsfett herbei, ließ Marret die Krabben schichten.
    »Du musst sie sorgfältig in Salz einlegen, Marret.«
    Die letzte Fettschicht übernahm sie selbst. Es durfte keine Luft mehr an die Krabben herankommen. Sie bestrich die Krabben mit dem Schafstalg und brachte den Tonkrug in die Miete. Dann nahm sie den Sack mit den Krabbenschalen und stellte ihn in den Schuppen.
     
    Die Woche verging schnell. Keike machte Marret und Göntje für den Gottesdienst fertig. Sie flocht ihre Zöpfe, bürstete die Kleidchen aus, schnürte die Schuhe.
    »Lauft zu Stine hinüber und geht mit ihr in die Kirche. Sagt dem Pastor, dass mir nicht wohl ist.« Sie zupfte an der Sonntagstracht der Mädchen und küsste sie auf die Stirn. »Stine wird heute auch für euch kochen. Und nun lauft.«
    Der Schwiegervater rief sein ›Pullt pullt, ah, das Wasser.‹ Keike gab ihm zu essen und zu trinken. Er lächelte. Sie streichelte ihm die Hand.
    Sie lief in den Schuppen und holte die Kiepe mit den Krabbenschalen. Seit Tagen faulten sie bereits vor sich hin. Sie bedeckte die stinkende Masse mit einem Tuch, hob den Korb auf den Rücken, ging zu ihrem Versteck im Geistertal und zog sich die Männerkleider an. Dann schlich sie durch die Dünen zur Baustelle.
    Die Baustelle war verlassen. Alle Männer saßen in der Kirche. Sie pirschte sich an die Unterkunft der Arbeiter heran, lugte durchs Fenster. Auch in der Baracke war niemand zu sehen. Sie öffnete die Tür, schlüpfte lautlos hinein und verteilte so schnell wie möglich die Krabbenschalen unter den Bettdecken der Männer. Dann schlich sie zum Haus des Ingenieurs. Sie sah sich in seinem Zimmer um. Es standen einige Bücher auf der Fensterbank. Auf dem Tisch

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