Die Insel der Witwen
Macht schnell.« Sie öffnete die Haustür, linste durch den schmalen Türspalt. Nissen war in Stines Haus verschwunden. Sie schlich zum Schuppen, versteckte zwei Holzplanken, mit denen sie die Tür reparieren wollte, schob sie unter einen Reisighaufen. Andere verdächtige Kleinigkeiten verdeckte sie mit dem Fischernetz. Sie huschte ins Haus zurück, sah sich überall um, ob noch irgendwo Strandgut herumlag. Sie lief in die Küche zurück, von wo aus sie den besten Blick auf Stines Haus hatte, und wartete.
Himmel, der Schinken! Sie nahm das Fleisch aus der Kammer, packte es in den alten Südwester von Harck und vergrub es in der Erdmiete.
Sie hatte Glück. Nissen war immer noch bei Stine.
Die Zeit verging. Er blieb lange im Haus. Hatte er etwas gefunden? Wenn er Stine abführt, wird er seines Lebens nicht mehr froh, dachte Keike. Warum ließ er sie nicht in Frieden? Warum ließ er ihnen nicht das bisschen, was sie sich nahmen?
Marret und Göntje schauten auch hinaus.
»Kommt der Strandvogt auch zu uns?«, fragte Göntje.
»Ich weiß nicht. Es kann sein.«
Sie steckten die Köpfe zusammen. Die Fensterscheibe beschlug von ihrem Atem. Marret wischte sie mit der Hand wieder klar.
Was trieb er solange bei Stine? Keike hoffte, dass Stine nicht so unvorsichtig gewesen war, eines der Rumfässchen im Haus zu haben.
Nichts regte sich. Der Schwiegervater rief Pullt, pullt . Keike stöhnte auf. Nicht jetzt, bitte nicht.
»Gib Großvater zu trinken, Marret. Wenn er sich nicht beruhigt, bleib bei ihm und halt ihm die Hand.«
Nissen war jetzt schon eine halbe Stunde bei Stine. Keikes Herz klopfte gegen die Rippen.
Endlich öffnete sich die Tür. Der Hund zottelte hinaus. Nissen folgte. Stines Mutter stand in der Tür. Sie lachte. Nissen gab ihr die Hand, verbeugte sich. Er drehte sich um, winkte noch einmal. Die Gartenpforte klapperte. Er nahm die entgegengesetzte Richtung. Keike atmete auf.
»Nissen kommt nicht, Kinder. Holt den Stoff und das Garn. Ich mach gleich weiter. Ich lauf nur eben zu Stine rüber.«
Keike nahm ihr Tuch vom Haken. Sie öffnete die Tür. Stine kam ihr bereits entgegengelaufen. Schluchzer brachen aus ihr heraus. Sie versuchte zu sprechen.
»Ich soll … ich soll …«, weiter kam sie nicht.
Keike nahm sie in die Arme. Sie ließ Stine ausweinen. Was hatte Nissen ihr angetan? Er schien sie nicht geprügelt zu haben. Sie hatte keine Rötungen im Gesicht.
Stine beruhigte sich ein wenig. »Keike«, wimmerte sie, »ich soll Knudt Nissen heiraten.«
Keike lief ein Schauer über den Rücken. Seit Nissens Frau, die Phine, tot war, lief er auf Freiersfüßen über die Insel. Aber Stine? Er wollte also kein junges Mädchen, sondern eine Frau für den Haushalt und seine Kinder.
»Mutter zwingt mich. Du musst ihn heiraten, er ist reich , hat sie gesagt. Vater ist tot, dein Bruder ertrunken. Wir wären versorgt bis ans Lebensende. Wer würde dich sonst noch nehmen? Du bist schon alt. « Stine rang nach Atem. »Ich werde ihn niemals heiraten, eher gehe ich ins Wasser.«
»Still, sag so was nicht.« Keike hielt Stine im Arm.
Sie dachte an Phine. Knudt Nissen hatte sie ebenso geprügelt wie diejenigen, die er am Strand erwischte. Wenn man Phine nicht in der Kirche sah, war es ganz schlimm gewesen.
Wenn es Phine gut ging, lief sie in die Heide. Eines Tages hatte Jette Bendixen ihr aufgelauert. Jette Bendixen war eine Lockente, die es auf ihre Artgenossen abgesehen hatte. Man musste sich vor ihr in acht nehmen. Sie hatte Phine in der Heide aufgelauert und mit einem Fischer ertappt. Dann war sie in jeden Winkel der Insel gelaufen und hatte Phine als mannstolle Kuh verschrien. Knudt Nissen schlug Phine halb tot und warf sie aus dem Haus. Sie lebte fortan in einer Hütte nahe den Krabbenbeinen. Ihre Kinder durften sie nicht besuchen.
Als Phine ins Wasser ging, sang das Meer ihr ein Sterbelied. Und der Wind heulte auf und jagte schwarze Wolken über den Himmel und hüllte die Sterne in Trauergewänder. Keike hörte die dumpfen Klänge, als wäre es heute gewesen. Sie spürte Stines Tränen auf der Haut. Sie streichelte ihr über den Rücken.
»Alles wird gut werden, Stine.«
H
Andreas Hartmann begrüßte Lorenzen. Der Kapitän war in ausgelassener Stimmung.
»Komm mit zur Auktion, Andreas, du hast doch Zeit. Ein Schiffswrack wird versteigert und allerlei Ausrüstungsgegenstände. Vom Tampen bis zum Kochtopf. Und das Wetter ist prächtig heute. Kühl und sonnig. Einfach herrlich!«
Sie
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