Die Insel der Witwen
den Augen, setzte den Mädchen die Hauben auf. Dann machten sie sich auf in die Kirche.
Sie betraten das Kirchenschiff. Keike schritt geneigten Kopfes, ihr Gesicht vom Tuch verdeckt. Sie sprach ihr Gebet und setzte sich auf ihren Platz. Der Gottesdienst begann. Sie konnte nicht länger warten. Verstohlen schielte sie zur Empore hinauf, dorthin, wo er saß. Ihre Blicke trafen sich. Ihr wurde heiß. Sie glühte. Am liebsten hätte sie ihn geküsst.
»Lasst uns beten«, sagt der Pastor.
Lieber Herrgott im Himmel , betete sie, ich brenne. Ein Blitz hat mich getroffen. Er ist vom Himmel auf mich niedergeschossen. Sei mir gnädig .
Der Pastor begann zu predigen. »Im ersten Brief des Paulus an Timotheus heißt es:
Ehre die Witwen, welche rechte Witwen sind.
So aber eine Witwe Enkel oder Kinder hat, solche lass zuvor lernen, ihre eigenen Häuser göttlich regieren und den Eltern Gleiches vergelten; denn das ist wohl getan und angenehm vor Gott.
Das ist aber die rechte Witwe, die einsam ist, die ihre Hoffnung auf Gott stellt, und bleibt am Gebet und Flehen Tag und Nacht.
Welche aber in Wolllüsten lebt, die ist lebendig tot. Solches gebiete, auf dass sie untadelig seien. «
Lebendig tot, hallte es in Keike nach. Ihre Gedanken verwoben sich zu Traumgespinsten. Sie sah sich in der Kirche sitzen. Sie hatte glänzende rote Schuhe an. Alle Kirchgänger schauten ihr auf die Füße. Auch die Apostelfiguren und Pastor Jensen mit seinem ernsten, strafenden, schwarz umrahmten Gesicht. Der Pastor verbot ihr, die roten Schuhe zu tragen. Sie sollte ihre schwarzen Schuhe anziehen. Böse Gesichter starrten sie an, durchbohrten sie mit Abscheu. Sie weinte, verstand die Menschen nicht. Es waren doch schöne Schuhe, die ihr Freude machten. Warum durfte sie sie nicht tragen? Plötzlich fingen die roten Schuhe zu tanzen an. Sie ließen ihre Füße hüpfen und springen. Sie konnte sie nicht anhalten. Sie fing zu lachen an. Es war wunderschön, zu tanzen. Die Schuhe trieben sie aus der Kirche hinaus, flitzten an den Grabsteinen vorbei, flogen mit ihr über Dünen und Strand. Sie tanzten und hopsten am Meeressaum entlang, und sie lachte und kreischte vor Vergnügen.
Dann kamen die Menschen gelaufen. Sie jagten hinter ihr her, packten sie. Der Zimmermann hielt ein Beil in der Hand. Schlag ihr nicht den Kopf ab! , schrie der Pfarrer, sonst kann sie ihre Sünde nicht bereuen. Der Zimmermann hob das Beil und hackte ihr die Füße mit den roten Schuhen ab. Dann gab er ihr Holzkrücken. Sie musste zurück in die Kirche humpeln. Aber die abgehackten Füße folgten ihr mit den roten Schuhen. Sie verließen sie nicht. Als sie in die Kirche zurückkam, stand ein schwarzer Sarg bereit. Alle wollten sie samt ihren Schuhen in den Sarg zerren. Sie schlug mit ihren Krücken um sich. Sie fiel, glaubte sich verloren. Plötzlich sprangen die roten Schuhe mit ihren Füßen hervor. Sie traten und stießen ihre Mörder beiseite, bis alle dachten, es sei der Teufel, der da wütete, und aus der Kirche flohen. Die Schuhe tänzelten siegestrunken zu ihr hinüber, setzten Beine und Füße sanft wieder zusammen. ›Steh auf, sagten sie, wir wollen weitertanzen.‹
Und der Wind flüsterte: ›Du bist ein Sturmkind, erhebe dich, flieg mit mir in die Lüfte. Lass uns die Wolkentürme jagen und die Wellen treiben. Über die Dünen und Felder fegen und die Weiden fluten.‹
H
Die Tage vergingen. Groth hatte Schwierigkeiten auf dem Festland. Bis auf zwei Hilfsmaurer waren ihm alle Gesellen bereits auf dem Weg zum Fährhafen davongelaufen. Die Männer hätten es sich anders überlegt, schrieb er, sie hätten keine Lust, auf der öden Insel zu arbeiten. Er müsste einen neuen Trupp zusammenstellen, würde sich beeilen, wüsste jedoch nicht, wie viele Tage das in Anspruch nähme.
Es war zum Verzweifeln. Immer wieder überdachte er alles. Selbst die banalsten Überlegungen schossen ihm ins Hirn. Beim Landfall war es wichtig, den Lichtstrahl eines Leuchtfeuers aus großer Entfernung von See erkennen zu können. Er hatte auf der hohen Düne den besten Platz für den Leuchtturm. Auch die Bauweise, der runde, konisch geformte Turm war am besten geeignet. Alle Ecken und vorspringenden Kanten boten den Naturgewalten Angriffspunkte und erhöhten die Instandhaltungsarbeiten und damit die Unterhaltskosten. Die glatte Gestaltung des Mantels ermöglichte den Luftströmungen, geschmeidiger abzufließen. Ein runder Turm war allerdings schwieriger zu
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