Die Insel der Witwen
hackte weiter. Immer wieder schnupperte sie, beobachtete die Wolken.
Es trieb sie an den Strand. Sie setzte sich in den Sand, verfolgte den Lauf der Wellen, die Wolken.
Ihr Blick verfing sich im Durcheinander des Muschelfeldes, in dem sie hockte. Die Schalen lagen als Schüsselchen mit Sand gefüllt, oder gekentert mit dem Panzer nach oben. Die meisten Muscheln waren zersplittert. Sie lagen verstreut um die noch heilen Schalen herum. Keike zog an einem Tangfaden, der sich in einem Wellhornschneckengehäuse verfangen hatte. Das Gehäuse drehte sich. Gedankenverloren nahm sie eine herumliegende Entenfeder, steckte sie in die Schnecke hinein. Dann ging sie zum Feld zurück.
Am frühen Abend zog eine tiefschwarze Wolke am Himmel auf. Der seichte Wind, der an diesem Tag blies, verwandelte sich innerhalb von Sekunden zum Sturm. Alle Fischerboote beeilten sich, den geschützten Hafen zu erreichen. Nur ein Boot war noch auf dem Meer.
Eine Totenbraut fegte über das Meer. Sie brüllte auf, erhob sich in zügelloser Wut zu einem Wellenturm. Sie brodelte und zuckte, umgarnte in gewaltigen Strudeln kreisend das einsame Schiff. Sie zerriss und zerfurchte die Segel des Kutters, jagte über das Deck, zerschlug die Luken, köpfte die Kappen, bis sich die tosende See über dem Rumpf des Schiffes ergoss und es mit Wasser füllte. Das Schiff versank, bis nur noch der Mast aus dem Wasser ragte, an den sich Knudt Nissen klammerte. Die Wellen brachen sich über ihm und schleuderten ihn in die Fluten, wo ihn das Meervolk in die Tiefe zog. Die Windsbraut entschwand so schnell, wie sie gekommen war. Das Meer lag glatt und wellenlos, wie ein Spiegel glänzend, im Sonnenschein.
2
Andreas Hartmann sah Jacob Lorenzen auf die Baracke zukommen. Lorenzen schaute oft bei ihm vorbei. Heute wäre er lieber allein gewesen. Er sehnte sich nach Ruhe, um nachzudenken und Ordnung in seine verwirrte Seele zu bringen.
Lorenzen winkte. »Moin, Andreas.«
»Moin, Jacob. Du, es passt im Moment nicht. Ich wollte gerade ein bisschen an die Luft.«
»Kein Problem, ich komme mit. Lass uns zur Seeseite gehen. Der Wind ist mild heute.«
»Lieber nicht. Ich muss nachdenken.«
Lorenzen wich nicht von der Stelle. »Ach was, nachdenken kannst du den ganzen Tag.«
Sie liefen durch die Dünen. Andreas Hartmann schwieg. Ihm war nicht nach Plaudern. Immerzu musste er an Keike denken.
Lorenzen durchbrach die Stille. »Alle reden von Nissen und der Totenbraut. Knudt war ein erfahrener Kapitän. Wieso ist er nicht rechtzeitig in den Hafen zurück? Er war doch gar nicht weit entfernt. Ole Erken, einer seiner Männer, vermutet, dass er gar nicht fischen war, sondern etwas bergen wollte, wovon die anderen nichts wissen sollten. Wahrscheinlich hat er recht. Deswegen ist Nissen wohl auch ganz allein auf dem Boot gewesen. Seine Habgier hat ihn umgebracht. Ha, am Mast hat er gehangen wie ein Affe.«
Andreas Hartmann hämmerte das Herz. »Ich will darüber nicht reden.«
»Aber sein toter Hund? Da ist auch noch sein Hund.«
Andreas Hartmann suchte ein anderes Thema. »Wie lange bist du zur See gefahren?«
»Zweiundvierzig Jahre. Ich war vierzehn, als ich mit meinem Vater die erste Fahrt als Schiffsjunge machte.«
»Und dann?«
»Der übliche Weg. Leichtmatrose, Matrose, Steuermann. Dann kam das Kapitänsexamen in Altona.«
Sie erreichten den Strand. Lorenzen blickte in die Weite.
»Die Flut kommt erst in vier Stunden. Und der Wind weht lammfromm. Komm, wir gehen weiter raus und wandern bis zur Südspitze.«
Sie bogen nach links ab.
»Welche Schiffe hast du befehligt?«
»Handelsschiffe aller Art. Mit dem Walfang ging es ja zu Ende. Und dann kam die HAPAG und Amerika.« Lorenzen verstummte. Sie gingen stillschweigend weiter. Das brodelnde Rauschen des Meeres tönte in der Ferne. Lorenzen hob eine Muschel auf, warf sie wieder fort.
»Verflucht sei die HAPAG! In der ersten Klasse, am oberen Deck herrscht Luxus. Die Salons und Kabinen sind mit Sofas und Damastvorhängen ausgestattet. Das Essen ist sehr gut. Aber im Zwischendeck …« Der Kapitän sprach gedämpft weiter. »Es gibt weder Licht noch Luft in dieser Pesthöhle. Die Auswanderer sind zu Hunderten zusammengepfercht wie Schweine. Viele sterben, bevor sie New York erreicht haben. An Typhus, Masern und anderen Krankheiten. Oder einfach an Entkräftung. Die Alten und Schwachen rafft es zuerst dahin. Es gibt weder einen Arzt noch genügend Medikamente an Bord. Auch die Verpflegung ist hundsmiserabel. Jedes
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