Die Insel der Witwen
folgendes Urteil:
»Es mag auffällig erscheinen, dass ein Mann, der bis kurz vor seinen Gräueltaten seinen Beruf als leitender Ingenieur gut ausübte, der von niemandem als geisteskrank angesehen wurde, hier als ein langjähriger Wahnkranker bezeichnet werden muss. Das ungewöhnlich Rätselvolle und Grauenerregende jenes Verbrechens eines gebildeten, in Arbeit stehenden Ingenieurs erklärt sich aus der furchtbaren Tragik seiner schleichenden, aber allmählich immer tiefer wirkenden Geisteskrankheit. Der Wahn ist die Ursache seiner Tat. Der beschuldigte Ingenieur Andreas Hartmann hat sich zur Zeit der strafbaren Handlung in einem Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Der Beschuldigte ist auch jetzt noch geisteskrank und neigt zur Gewalttätigkeit. Er ist mithin als gemeingefährlich einzustufen.
Andreas Hartmann ist mit sofortiger Wirkung in die Irrenabteilung nach St. Georg zu überführen , wo er dauernd und sicher verwahrt bleiben wird. «
H
Keike lief nach Hause. Sie lachte und weinte, warf Sandfontänen in die Höhe, ließ sich fallen, wälzte sich im Sand, rang nach Luft, rollte sich zusammen, lag still da. Sie spürte ihn noch überall. Sie wollte Tag und Nacht in seinen Armen liegen, nichts anderes mehr denken, tun, nur lieben.
Sie lief zu Medje, flink wie ein junges Mädchen. Medje saß auf der Bank vor ihrem Haus. Keike stürzte auf sie zu. Ihre Wangen glühten. Sie umarmte Medje, flüsterte ihr ins Ohr.
»Medje, ich, ich …«
Medje lächelte. »Wer ist es?«
»Der Ingenieur!«
Keike setzte sich neben Medje, lehnte den Kopf an die Schulter der Freundin. Medje schüttelte den Kopf.
»Er ist verheiratet und hat Familie. Er wird gehen, und du wirst Inselwitwe bleiben. Er wird seinen Leuchtturm und dir, wenn du Pech hast, einen Balg zurücklassen und dich ins Elend bringen.«
»Hilfst du mir? Stine und du, nehmt ihr die Kinder? Gleich morgen?«
»Was soll das werden? Du machst eine Dummheit.«
Plötzlich lachte Medje. »Mir fällt eine Geschichte ein.« Sie legte den Arm um Keike. »Es waren einmal drei verheiratete Inselfrauen. Als ihre Männer in See stachen, verwandelten sich die Frauen in Wellen. Sie beschützten das Schiff und sorgten dafür, dass ihre Männer heil im fernen Zielhafen ankamen. Doch im Hafen entdeckten sie, dass sich die Kerle mit anderen Frauen vergnügten. Auf der Heimreise bäumten sich die Ehefrauen zu drei Sturzwellen auf und versenkten das Schiff. Nur den schönsten Matrosen ließen sie am Leben. Er lag auf einer Holzplanke. Die Witwen ließen ihn von Welle zu Welle gleiten, bis sie die Heimatinsel erreicht hatten. Seitdem führten sie ein erfülltes Leben.«
Medje lachte. Ihr Lachen klang wie das Blöken der Schafe.
H
Andreas Hartmann saß im Windschatten der Dünen und träumte. Ihn überfiel eine Freude, die ihm Tränen in die Augen trieb und seine Brust erbeben ließ. Er rupfte einen Dünenhalm, kaute, über sich die Unendlichkeit des Himmels. Alles erschien ihm in den schönsten Farben. Sein Herz weitete sich, streute wie eine Pusteblume Liebessamen auf einer grünen Wiese.
Er war in einen Liebesorkan geraten. Noch nie hatte er erlebt, was Leidenschaft war, wie eine Frau in ihrer Lust erbebte, schäumte wie die Gischt der Wellen. Er wollte morgens, mittags, abends bei Keike sein, sie lieben, bis seine Kraft versiegte und er glücklich neben ihr lag. Ihre Körper passten zueinander, als wären sie von jeher füreinander geschaffen. Es gab keinen Knochen, keinen Winkel, der störte. Alles schmiegte sich aneinander. Sie bewegten sich in unendlicher Vertrautheit, als hätten sie sich schon immer geliebt. Er schwamm im Glück, fühlte sich unbeschwert, leicht wie eine Feder.
Er war von unbändigem Stolz erfüllt, ein Mann zu sein. Er war dazu geschaffen, zu lieben. Sein Körper hatte es ihm gezeigt. Sein Herz war noch nicht abgestorben. Und seine Leidenschaft auch nicht. Er fühlte sich stark und jung. Und er hatte Keike beglückt. Neue Lust keimte in ihm auf. Er spürte die Kraft eines Löwen in sich. Er sehnte sich nach ihr. Nach ihrer Stimme, ihren Liebkosungen, ihrem Duft. Nach ihren Händen, ihrem Blick, ihrem Mund, ihren vollen Brüsten, ihren, ihren, ihren … Es gab nichts, was er nicht begehrte. Nichts, was er nicht liebte. Seine Haut prickelte. Sie war wie der Wind, sanft, stürmisch, frisch, wild. Er gierte nach jedem Luftzug von ihr. Er fühlte
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