Die Insel der Witwen
liebste Perle, kleiner Krebs.‹ Und der Krebs sagte: ›Noch nie habe ich ein so wunderschönes Haus bewohnt.‹
So vergingen die Tage. Der Krebs wuchs langsam an der Auster fest. Und die Auster trug ihn freudig durch die Wasserfluten. Denn auf den Austernbänken sitzen mochte sie nicht. Das war ihr zu langweilig und auch zu gefährlich wegen der Fischer.
Eines Tages, es war ein windstiller Sommerabend, leuchtete das Meer wie goldene Perlen. Die Auster badete ausgiebig in dem Feuerwasser. Ihr schwarzes Kleid verwandelte sich in ein rotgoldenes Festgewand. Der Krebs umarmte und küsste sie. ›Ich liebe dich so sehr‹, sagte er. Und die Auster schmatzte: ›Du bist mein Leben, kleiner Krebs.‹ Jetzt waren sie Mann und Frau. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«
Keike holte die schöne Tabaksdose hervor und legte sie Andreas in die Hand.
»Kriech hinein«, sagte sie.
Andreas Hartmann strich Keike eine Strähne aus dem Gesicht und küsste sie leidenschaftlich.
H
Er saß in seiner Baracke, lauschte dem Singsang der Böen, die um die Wände strichen. Der Wind hatte heftig zugenommen. Und es waren Wolken aufgezogen. Nichts erinnerte mehr an die betörenden Stunden, die er mit Keike verbracht hatte. Er rieb sich die Schläfen. Seine Gedanken erschütterten ihn wie die Böen. Sie schlugen an seine Schädeldecke, pochten, klumpten sich im Magen zu einem verwirrten Knäuel zusammen. Plötzlich schoss ihm ein Gedanke in den Kopf. Er drängte sich immer mächtiger in sein Hirn, blähte es auf wie einen Heißluftballon. Was wäre, was wäre, wenn Almut …, wenn er Witwer würde. Eine Krankheit, ein Leiden, ein Unfall. Andreas Hartmann spürte, wie er erblasste. Schwindel erfasste ihn.
Der Wind pfiff ihm schrill in die Ohren. Er riss die Schublade auf. Er musste Almut schreiben, jetzt, auf der Stelle. Er ertrug sein schlechtes Gewissen nicht länger. Er entzündete die Lampe, holte Papier hervor. Mit zittriger Hand setzte er die Feder an.
Liebe Almut!
Verzeih, dass ich Dir so lange nicht geschrieben habe. Ich komme vor lauter Arbeit zu gar nichts mehr. Dann passierte auch noch das Malheur, dass Dein letzter Brief mit drei Wochen Verspätung eintraf. Ein ganzer Postsack war verloren gegangen.
Was kann ich Dir berichten? Die neuen Arbeiter sind fleißig und murren kaum. Der Turm wächst zusehends. Es gibt im Moment keinerlei Störungen. Das Material ist vorhanden, es kommen keine Diebstähle und mutwilligen Zerstörungen vor, und das Wetter ist auch ideal für Bauarbeiten.
Gestern ist die Lampe angekommen. Sie ist großartig. Sie hat Seiten-und Rückenprismen. Sie lenken die von dem Apparat eines festen Feuers in der Horizontalen zentrisch divergierend ausfallenden Strahlen in bestimmte berechnete Winkel ab. Mit den Seitenwinkeln lässt sich allerdings nur eine Ablenkung der Strahlen bis gegen neunzig Grad erzielen. Deshalb verwende ich auch die Rückenprismen. Sie wirken bis einhundertdreißig Grad. Einer der Stevensons hat sie entwickelt. Ach, ich wünschte mir, ich wäre so mutig wie die Stevensons. Du weißt, ich hatte als Junge mit Vater die Leuchttürme von Bell Rock und Sherryvore Rock besichtigt. Großartige Bauten. Eine Meisterleistung, diese Leuchtfeuer auf Felsen und Klippen zu errichten. Allein die Vorstellung, die Granitblöcke vom Lastkahn auf das Riff zu hieven und bei den Arbeiten den Stürmen und Wellen zu trotzen. Die Stevensons bestücken ganz Schottland mit ihren Leuchttürmen. Eine großartige Familie. Ob Hannes wohl auch Leuchtturmingenieur wird? Nun, ich will ihn nicht drängen. Er soll selbst entscheiden.
Ansonsten habe ich mich auf Taldsum gut eingewöhnt. Die Insel zeigt sich gerade von ihrer schönsten Seite. Die Sonne lässt alles heiter erscheinen. Das Meer leuchtet strahlend blau und ist so ruhig wie das Wasser in der Badewanne. Man bekommt manches Mal Lust, hineinzuspringen. Strandungen kommen bei dem Wetter gar nicht vor.
Wie ich Deinem Brief entnehme, geht es euch gut. Das freut mich. Denn meine Abreise wird sich leider verschieben. Ich kann den Zeitplan aufgrund der anfänglichen Verzögerungen nicht einhalten, sodass ich leider auch nicht zu Jules Geburtstag daheim bin. Vor Ende Oktober wird es nichts werden. Ich habe das Ministerium in Berlin bereits informiert. Die Einweihung ist verschoben, der König benachrichtigt. Ich hoffe, dass die Herbststürme auf sich warten lassen und die Feier ohne Probleme verlaufen wird.
Liebe Almut, es ist
Weitere Kostenlose Bücher