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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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Seemöwen kam auf ihn zugeflogen, stürzte sich auf ihn nieder. Die Vögel kreischten, krallten Schnabel und Klauen tief in seine Haut und pickten Fleischstücke aus ihm heraus. Blut, Blut, überall spritzten Blutgedanken. Andreas Hartmann versuchte zu schreien. Lippen und Zunge bewegten sich, aber kein Laut entrang sich seiner Kehle. Erst nach schrecklichen Sekunden der Marter entlud sich das, was an ihm nagte, all seine Angst und sein Schmerz in einem markerschütternden Gebrüll.
     
    H
     
    »Ahhh, das Eis, das Eis, halsen, so halst doch, Wasser!«
    Keike richtete den Schwiegervater auf. Sie gab ihm zu trinken, betete, dass er Ruhe geben möge. Sie setzte den Becher ab. Er schrie weiter. Sie gab ihm wieder zu trinken. Schreien. Trinken. Schreien. Keike lief zum Herd, ergriff den Suppentopf und lief zu Rike hinüber. Rike war auch verrückt. Sie lebte in einem winzigen Häuschen am Südrand des Witwenviertels zur Wattseite hin. Dort wohnte sie mit ihrem unehelichen Sohn in bitterster Armut. Ihr Sohn hieß Lars. Er war seit dem elften Lebensjahr zur See gefahren, damit sie überleben konnten. Mit einundzwanzig Jahren kam er nicht mehr wieder. Rike wusste nicht, dass Lars tot war. Rike lebte mit ihrem Sohn in ihrem Häuschen. Sie bürstete ihm die Jacken aus und wusch seine Hemden. Jeden Tag packte sie seine Seekiste. Vier wollene Hemden, ein Ölanzug, ein paar blaue Düffelhosen, Handschuhe, Südwester, Wasserstiefel.
    Keike öffnete die Tür. Die Luft war uringetränkt. Rike saß zusammengesunken auf ihrem Hocker. Tiefe Falten zogen sich wie die Kerben einer Herzmuschel über ihr Gesicht. Die Muschel lächelte. Rike nahm ihren Handstock zur Hand, richtete sich mühsam auf.
    »Sieh, mein Junge, die Keike bringt uns was.«
    Rike stand auf ihren Stock gestützt, mit weit nach vorn gekrümmtem Oberkörper, den Kopf nach links geneigt und lachte. Nur wenige Zahnstummel ragten aus der Mundhöhle hervor. Sie wischte sich mit ihrem Ärmel die Tränen aus den Augenwinkeln, so sehr freute sie sich. Sie schlurfte zum Regal und deckte zwei Teller, für sich und für Lars.
    Keike füllte die Suppe auf. »Lasst es euch gut schmecken. Nach dem Essen wasche ich dich und dann ziehen wir dir neue Wäsche an.«
    Rike schlürfte die Suppe. Keike streichelte ihr den Rücken. Pastor Jensens Predigtworte kamen Keike in den Sinn: In den letzten dreißig Jahren gab es nur ein uneheliches Kind auf der Insel. Gott wird es uns danken, ihr sittsamen Frauen , krähte er durch den Kirchenraum.
    Was für ein Leben führten sie? Was für ein Leben führten die Frauen auf Taldsum? Ihnen blieben nichts als Sehnsucht, Trauer und die Ehre. Oder das Wasser. Keike dachte an Mädchen, die während der Schwangerschaft heiraten mussten. Und an die, die ins Wasser gegangen waren. Oder von ihren Eltern umgebracht wurden. Wie Anna.
    Anna war schwanger gewesen. Ihre Mutter tat so, als wüsste sie es nicht. Anna hatte vor lauter Angst auch geschwiegen. Als sie in die Wehen kam, war sie ganz allein. Ihre Mutter hatte keine Hebamme zur Hilfe geholt. Anna starb mit dem Kind im Bauch.
    »Der Teufel hat ihr das Genick umgedreht«, krächzte ihre Mutter. »Gott sei Dank, dass sie hin ist.« Und sie drohte ihrer toten Tochter mit der Faust und rief: »Da liegst du nun. Das hast du dir selbst zuzuschreiben! Du hättest dich anständig benehmen müssen!«
    Annas Mutter verscharrte ihre Tochter ohne Gottessegen. Sie hatte aber keinen Zwirn und keine Schere mit ins Grab gelegt. Da kehrte Anna als Wiedergängerin zurück, holte sich die Schere und schnitt ihrer Mutter die Zunge ab.
     

4
    Mitte September war der gemauerte Turm vollendet. Andreas Hartmann hatte einen schalen Geschmack auf der Zunge. Er konnte sich nicht freuen. Lustlos plante er die nächsten Schritte. Der Umgang konnte aufgewunden und gelegt werden. Dazu brauchte er acht Tage. Danach die Aufmauerung der Trommel und die Kranzlegung für die Laternenständer. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass es Verzögerungen geben könnte und er länger auf der Insel bleiben müsste. Er stöhnte auf. Das durfte nicht geschehen. Er versuchte, sich zu disziplinieren. Der Regen schlug an die Fensterscheibe. Er saß wie geknebelt an seinem Tisch. Er musste den Brief ans Ministerium verfassen. Seine Gedanken kreisten um Keike, Keike, nur um Keike. Gleich würde er sie sehen.
     
    Ich habe die Ehre, Ihnen mitteilen zu können, dass die Einweihung am 23. Oktober dieses Jahres stattfinden kann. Bitte darum, seine Majestät

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