Die Insel der Witwen
ich in seinem Beisein den Segen für den Leuchtturm gesprochen habe.«
Jensen hüstelte. »Bitte schildern Sie mir doch kurz den Ablauf der Einweihung. Das würde mich sehr beruhigen.«
Andreas Hartmann stürzte den Kaffee hinunter, verbrannte sich die Zunge. »Das können wir am Montag besprechen, ich muss jetzt zurück zum Turm.« Er erhob sich, reichte Jensen die Hand.
»Danke für alles, Herr Pastor.«
Jensen drückte seine talgige Hand in die seine. »Bis Sonntag im Gottesdienst.«
VIERTE WELLE
1
Jeden Tag sah Keike ein wildes Feuer. Es zeigte sich bei Sonnenaufgang und brannte, bis die Sonne unterging. Es flackerte hin und her, blieb nicht auf einem Fleck. Manchmal schien es zu verlöschen. Dann zeigte es sich von Neuem. Feuer, Feuer, sie konnte nichts anderes mehr denken. Arbeitete sie auf dem Feld, rief es in ihr Es brennt, es brennt! Dann lief sie schneller als der Wind nach Hause. Aber ihre Kate war unversehrt.
Abends, wenn sie im Bett lag, hörte sie, wie jemand ans Fenster klopfte und Keike! rief. Sie schnellte hoch, stieß das Fenster auf, doch da war niemand. Seit einer Woche schon brannte das wilde Feuer, und immer wieder klopfte jemand in der Nacht und rief Keike! Nachts träumte sie von Feuer. Die Flammen schlugen über ihr zusammen. Es prasselte, loderte, glimmte und glühte. Es züngelte, knisterte, sengte und schwelte. Sie konnte zwischen sich und dem Feuer nicht mehr unterscheiden. Die Funken sprangen auf sie über. Ihre Arme wurden Feuerzungen, ihre Beine Flammenschwerter. Sie erhob sich, lief über die Insel und schleuderte ihr Feuer in alle Richtungen. Sie stand in einem Flammenmeer. Sie war das Flammenmeer. Alles um sie herum verbrannte zu Asche. Die schwarze Insel versank. Als sie unterging, stieg schwarzer Rauch über dem Wasser auf.
Die Witwe John spukte in ihrem Kopf herum. Vor langer Zeit war bei ihr zum dritten Mal Feuer ausgebrochen. Das ganze Dorf verbrannte. Häuser, Leinen, Wolle, Betten. Die Männer wollten sie töten, weil sie durch ihre Schuld schon zum dritten Mal ihr Hab und Gut verloren hatten.
»Tut solches nicht!«, rief ein blinder, alter Mann, »denn wir werden bestraft um unserer Sünden Schuld. Tut solches nicht!«
Am Abend nach dem Brand rauschten die Enten aus dem Watt heran und schnatterten um die Ruinen herum. Einige von ihnen liefen in die letzte Glut.
H
Andreas Hartmann hatte wie jeden Sonntag rechtzeitig auf der Empore Platz genommen. Den ganzen Morgen sehnte er sich bereits danach, einen Blick von Keike zu erhaschen. Und wenn es nur ihre Haube wäre, auf die er schauen könnte. Unter der Haube lagen seine Träume, seine Sehnsüchte, sein Erwachen, seine Liebe. Jede Minute, die er noch mit Keike verbringen konnte, zählte. Jede Sekunde verlängerte sein Gefühl, Glück zu leben, ließ sein Herz höher schlagen, versetzte Leib und Seele in Schwingungen. Selbst wenn sie miteinander weinten, fühlte er Glück.
Die Kirche füllte sich, die Frauen traten ein. Er konnte Keike nicht entdecken. Ihre Mädchen saßen in der Bank. Warum kam Keike nicht?
Keike saß beim Schwiegervater. Die ganze Nacht hatte er gefiebert und erbrochen. Sie nahm einen Lappen und kühlte ihm die Stirn. Wieder sah sie das Feuer. Sie fühlte sich selbst wie eine Flamme, die hell emporschoss. Ein Schwefelhölzchen sprühte kleine Funken, dann erglühte die hungrige Flamme. Papier fing Feuer. Es bildeten sich schwarz verkohlte Ränder. Die Flamme fraß sich weiter, bis sie hell knisternd aufloderte, einen Papierstapel erfasste, dann die Gardine hinaufzüngelte, bis sie lichterloh brannte. Hunger, Hunger! , schrie das Feuer. Glühende Feuerzungen schleckten nach allem, was sie erreichen konnten. Sie verschlangen Stühle, Strohmatratzen, Leinenzeug. Immer lebhafter tanzte das Feuer. Flammensäulen fraßen sich bis zum Dach hinauf, hüllten es in eine Feuerwolke. Funkenstürme wüteten. Deckenbalken stürzten ein, Funkengarben sprühten. Hin und her sprangen die Flammenteufel und ließen die Fensterscheiben bersten.
Der Gottesdienst hatte begonnen. Andreas Hartmann hielt sein Gesangbuch aufgeschlagen. Er sang nicht, blickte sehnsüchtig auf Keikes leeren Platz. Er spürte seine Seele. Sie lag oberhalb des Magens, drückte, dass ihm übel wurde. Es war vorbei. Morgen kam Almut. Er hörte die Gemeinde singen.
Oh, dass doch bald dein Feuer brennte,
du unaussprechlich Liebender,
und bald die ganze Welt erkennte,
dass du bist König, Gott und
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