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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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Du musst wissen, er war nicht nur Kojenmann, sondern auch der Eierkönig der Insel. Er durchsuchte jedes Kaninchenloch nach Brandentennestern. Er sammelte auch Silbermöweneier. Die sind fast genauso groß. In der Gruft schlief er neben seinen Eiern und den Urnen und halbverbrannten Knochen der Ahnen, die dort noch in der Asche liegen. Wer weiß«, raunte Lorenzen, »vielleicht fühlten sich die Vorfahren gestört, vielleicht haben sie ihn verschwinden lassen.«
    »Jacob, bitte bleib mir mit deinem abergläubischen Geschwätz vom Leib. Ich habe andere Probleme.«
    »Oha, der Herr Ingenieur ist heute schlecht gelaunt.« Lorenzen nahm seine Mütze und erhob sich.
    »Ocke wird schließlich nicht in einem Kaninchenloch begraben liegen. Das passiert nur kleinen Kindern.«
    »Bitte, ich muss die Einweihung planen.«
    »Ich wollte es dir nur gesagt haben.«
    Er machte ein ernstes Gesicht. »Weißt du, was die Keike Tedsen sagt?«
    Andreas Hartmann errötete. Seine Gesichtshaut brannte. Er versuchte, sich zu fassen, aber die glühende Hitze blieb. Lorenzen fixierte ihn. Er schien es zu genießen, ihn mit seinem Blick zu durchbohren.
    »Keike Tedsen sagt, eine Schar Enten hätte Ocke Ketels gepackt und in die Schlickwatten geworfen.«
    Das Auflachen des Kapitäns klang wie ein Möwenschrei.
    Lorenzen drehte sich um und verließ die Baracke.
    Andreas Hartmann schluckte. Wieso hatte Lorenzen ihn angestiert, wieso hatte er Keike erwähnt? Er versuchte, sich zu beruhigen. Ein Zufall. Es war nichts als ein Zufall. Lorenzen war sehr sonderbar. Im Grunde genommen hatte er noch nie so viele absonderliche Menschen kennengelernt wie auf Taldsum. Inzest. Auswirkungen des Inselinzests. Keine Frage. Er versuchte, sich zu konzentrieren.
     
    Ankunft der königlichen Flotte
    Redner, Musik, Kutsche …
     
    Erneut fiel sein Blick auf Almuts Brief. Widerwillig zog er den Bogen aus dem Umschlag, entfaltete ihn, überflog die Zeilen. Andreas Hartmann schwindelte. Das Blut wich ihm aus dem Kopf. Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Im Zustand der ihn bedrohenden Bewusstlosigkeit keimten Wut und Verzweiflung in ihm auf. Zu spät. Ich kann es nicht mehr aufhalten. Alles zu spät. Er zerknüllte den Brief und warf ihn auf den Boden.
    Er lag schlaflos im Bett. Seine Gedanken gingen wie ein rostiges, stumpfes Messer durch sein Gemüt und tropften in die offene Wunde. Er schluchzte auf. Wie ein gekrümmter Wurm war er durch die Jahre gekrochen. Was war wichtig? Warum sollte er weitere Leuchttürme bauen? Warum sollte er zu den Millionen von Steinen weitere hinzufügen? Warum zu seiner Frau zurückkehren? Er wollte doch nur eines. Keike. Aber wer war sie? Zog sie ihn nicht in den Abgrund? Zerstörte sie nicht seine sichere Welt? Sie brachte ihn dazu, seine Familie zu verschmähen. Er war liebestoll geworden. Welches Gift floss in seinem Blut? Er war Keike verfallen, war nicht mehr Herr seiner selbst. War er jemals Herr seiner selbst gewesen? Er griff zur Tabaksdose, die auf dem Nachtschrank lag, öffnete sie. Salzig-fischiger Geruch strömte aus dem Döschen. Keike hatte einen kleinen Krebs hineingelegt. Tränen rollten über seine Wangen. Er klappte den Deckel zu und umschloss die Dose mit seiner Hand.
    Der Wind dröhnte hohl, als käme er aus einem tiefen Loch. Andreas Hartmann fiel in den Schacht, auf dessen Grund ihn das Dunkel des Schlafes umhüllte.
     
    Er steht auf dem Festland. Seine Augen strahlen weit aufs Meer hinaus. Plötzlich blinkt von der Insel ein bezaubernd schönes Licht herüber. Es sind die Augen einer wunderschönen Frau. Für einen kleinen Moment treffen sich ihre Blicke, genau in der Mitte zwischen dem Festland und der Insel. Sein Herz beginnt laut zu klopfen. Seine Augen erglühen und erleuchten das Meer hell und klar. Sie strahlen prachtvoller als alle Sterne am Firmament.
     
    Sie blinzelt ihm zu und wiegt ihren Körper geschmeidig wie eine Seeschlange. Sie tanzt für ihn im Mondenschein, schwingt ihre Hüften von einer Seite zur anderen. Er möchte die Schöne berühren und liebkosen. Er will den Fuß heben. Aber er ist an seinen Platz geschmiedet wie ein Leuchtturm. Seine Beine sind in Beton gegossen. Er kann das Meer nicht überwinden.
     
    H
     
    Sie saßen in den Dünen, dicht an dicht, um sich vor dem kühlen Wind zu schützen. Weiße Schleierwolken zogen auf. Sie kündigten Regen an. Keike hielt Andreas’ Hand. Sie war eiskalt, lag leblos in der ihren, erwiderte keine ihrer Liebkosungen, weder den sanften Druck noch

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