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Die Insel des Magiers

Die Insel des Magiers

Titel: Die Insel des Magiers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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bewußt. Weniger klar war mir, wie einsam ich war.
    Meine Mutter starb plötzlich, wie du weißt. Sie war eine gierige Esserin, und da das Bedürfnis zu sprechen, ja selbst das zuzuhören ihr abgenommen war, ließ sie sich von nichts stören, wenn sie sich den Mund füllte… doch trotzdem konnte sie sich, wie ich aus eigener harter Erfahrung wußte, auf ihre Art auch mitten im Kauen durchaus deutlich verständlich machen. Viele Male wurde ich mit brennenden Ohren und Tränen in den Augen weggeschickt, wenn ich versucht hatte, ein wenig mehr Fleisch von dem Knochen abzuzupfen, den sie in der Hand hielt.
    Obwohl es auf unserer Insel Früchte und Grünzeug im Überfluß gab, oder vielleicht gerade deswegen, verlangte es mich als Heranwachsenden nach Fleisch aller Art. Fisch gab es, wenn auch nie reichlich, und die Fallen meiner Mutter fingen niemals genug Vögel oder anderes kleines Wild, um meinen Appetit zu stillen. Wenn sich ein kleiner Braten über den Flammen drehte, zog der Geruch mich wie mit Zauberkraft an. Dann trank ich mit der Nase den Duft und steckte mein Gesicht in den Rauch, bis ich mir schließlich fast die Seele aus dem Leibe hustete.
    Es mag daher kaum glaublich erscheinen, daß ich nicht ein Stückchen von dem toten Schwein mit nach Hause brachte, ja sein Fleisch nicht einmal probierte. Mehr noch, als ich mir einen Schmierfleck seines heißen Blutes von der Hand leckte, hätte ich mich beinahe übergeben. Ich deckte die Leiche mit Erde zu und versuchte, nicht mehr daran zu denken – mit wenig Erfolg, wie du vermutlich schon ahnst. Der einsame Geist befingert einen häßlichen Gedanken wie eine Wunde, von der man ständig wissen will, ob der Schmerz geringer geworden ist, und erhält ihn damit über seine Zeit hinaus am Leben.
    Fleischliche Kost war Mangelware, und so war es nicht verwunderlich, daß es zwischen meiner Mutter und mir zu Zeiten fast zum Schlagabtausch kam, wenn nur noch ein einziges Fischskelett übrig war und sie darauf bestand, die letzten Fleischreste von den Gräten abzunagen. Je mehr ich ihr über den Kopf wuchs, um so gemeiner fand ich es, daß sie sich ein solches Vorrecht herausnahm. Und bei einer solchen Gelegenheit geschah es, daß sie eine knochige Hand hob, um mich wegzuschlagen, und plötzlich innehielt.
    Zuerst dachte ich, sie beabsichtige, ein neues Geräusch hervorzubringen, so ausgefallen und beispiellos, daß es zu seiner Erzeugung einer gewaltigen Anstrengung bedurfte. Sie wackelte hin und her und schlenkerte ihre sich krümmenden Finger, als hätte sie sich verbrannt, und plötzlich rappelte sie sich auf. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer erstaunlichen Vielzahl von Fratzen, dann wurde es dunkel, als ob ein inneres Licht mit einem letzten Flackern ausginge. Sie taumelte, faßte sich an die Kehle und schlug lang hin.
    Und was machte ich? Ich stellte mich natürlich auch hin und beobachtete sie, und nachdem sie zu Boden gestürzt war, blieb ich noch lange so stehen. Ich konnte nicht begreifen, was geschehen war. Zuerst meinte ich, sie sei eingeschlafen, überanstrengt von dem Versuch, diesen neuen Laut herauszutrompeten. Als sie sich nach einiger Zeit immer noch nicht bewegt hatte, trat ich heran und berührte sie sachte, denn die wenigen Male, die sie aus Erschöpfung oder wegen einer Krankheit länger geschlafen hatte als ich, hatte sie mir auf ziemlich unangenehme Art klargemacht, daß sie sich gar nicht gern wecken ließ.
    Diesmal jedoch wachte sie nicht auf, und sie rührte sich auch nicht mehr. Langsam ging mir die furchtbare Wahrheit auf. Mit einem Schlag war ich allein. Der einzige Mensch, den ich kannte, das einzige andere menschliche Wesen in meinem Leben war von mir gegangen.
    Nein, es war noch schlimmer, sofern so etwas möglich ist. Nicht nur meine einzige Gefährtin, sondern mein Gott war gestorben. Das ist etwas, das niemand außer mir jemals ermessen kann – die vollkommene Einsamkeit, die Verlassenheit, die jähe, niederschmetternde Leere meines Lebens. In jener Nacht schleifte ich verzweifelt die Leiche meiner Mutter in die Hütte. Sie war bereits kalt geworden, doch ich wickelte uns beide in meine weiche Schilfgrasmatte ein und hielt sie bis zum Morgengrauen, versuchte, ihr die Wärme zurückzubringen. Bestimmt, so meine wortlose und verworrene Überlegung, war es nur ein längerer Schlaf, ein tieferer Schlaf. Bestimmt würden ihre knochigen Finger mich in der Frühe am Ohr ziehen, um mich aufzuwecken. Es würde genauso sein wie alle anderen

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