Die Insel des Magiers
Tage, und die Nacht davor würde bloß als eine der vielen Merkwürdigkeiten meiner Mutter in meinem Gedächtnis haften bleiben. Zitternd lag ich mit einer Leiche im Arm da und bemühte mich, den Stoff der Wirklichkeit durch schiere Willenskraft neu zu weben.
Doch als ich erwachte, war sie kalt und starr, obwohl ihre Augen noch offen waren. Ich berührte sie, tastete nach dem beruhigenden Pochen der Ader in ihrem Hals, dem sanften Trommelschlag, der mich meine ganze Kindheit über in den Schlaf gelullt hatte, doch ich fühlte nur die gräßliche Dehnung der Kehle, die tödliche Form der dort steckengebliebenen Gräte.
Was danach geschah, habe ich zum größten Teil vergessen. Ich erinnere mich, daß ich am Strand auf und ab wankte und zum Himmel klagte, der nicht zu wissen schien, daß die Welt untergegangen war. Ich weiß, daß ich durch den Wald lief, bis mir Füße, Hände und Gesicht von den Steinen und den peitschenden Zweigen bluteten. Ich meine mich zu erinnern, daß ich eine ganze Nacht schlotternd in einem Bach saß, bis zum Hals im Wasser, doch es ist alles ein Chaos von Tönen und Bildern, von abwechselnd Licht und Schatten. Tagelang werde ich mich wie ein Wahnsinniger gebärdet haben.
Zuletzt kehrte ich nach Hause zurück. Meine Mutter lag immer noch da, obwohl sich ihr Körper im Laufe der Tage unnatürlich verkrümmt hatte und aussah, als sei sie krampfhaft bemüht, sich aufzusetzen. Ihre Lippen hatten sich von ihren kaputten Zähnen zurückgezogen, und beides war denkbar: daß sie nach mir weinte wie daß sie über meine Dummheit lachte. Ich konnte sie nicht anschauen, aber genausowenig wußte ich, was ich tun sollte. Die nächsten paar Tage lebte ich am Strand und mied das Lager, doch obwohl ich bei der mechanischen Verrichtung der Lebensnotwendigkeiten – essen, schlafen, aus dem Bach Wasser schöpfen – einen großen Bogen um die Überreste meiner Mutter machte, konnte ich der gähnenden Leere in der Lebensmitte nicht ausweichen, die sie zuvor mit ihrer Allgegenwart eingenommen hatte, mit ihrem… Muttersein. Zudem spürte ich, daß das nicht ewig so weitergehen konnte: Selbst ein Tier, wie ich zu dem Zeitpunkt eines war, weiß, wenn es verletzt ist, daß es sich heilen muß. Etwas mußte geschehen, damit ich wieder leben konnte.
Und verschlimmernd kam noch hinzu, daß sie anfing zu stinken.
In der Hoffnung, fern von dem Grauen unseres Lagers etwas Klarheit zu finden, etwas beschauliche Ruhe, begab ich mich schließlich in das Tal und in den Schatten der uralten Fichte, diesmal jedoch brachte mir die Gegenwart des Baumes keine Festigung meiner Entschlußkraft. Statt dessen war mir beinahe, als fühlte ich, wie sich der Geist des Baumes hämisch freute, wie er darüber frohlockte, daß etwas lange Ersehntes endlich eingetreten war. Mir wurde ganz flau im Magen, und rasch verließ ich das Tal wieder.
Da mußte ich an die Bache am Grund meines Lochs denken, und mir fiel ein, daß es mir eine gewisse Erleichterung verschafft hatte, sie mit Erde zu bedecken. Also verbrachte ich den restlichen Nachmittag damit, eine ähnliche Grube für meine Mutter auszuheben. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, daß das unermüdliche Wühlen der See alle Fischgräten oder Geflügelknochen, die wir am Strand vergruben, bald wieder freilegte, und so wählte ich als Platz für Sycorax’ Grab den Rand des Waldes. Ich grub mit den bloßen Händen, bis die Finger bluteten und der Schweiß wie Regen von mir herunterfloß. Als ich fertig war, wickelte ich sie in die Matte ein, um sie transportieren zu können, und schließlich stieß ich ihren ekligen Körper in das Loch hinab – bei der Erinnerung schaudert es mich heute noch! – und warf hastig Erde darauf.
Ich kannte natürlich keine Gebete, ich wußte nicht einmal, daß es so etwas gab. Wenn meine Mutter Setebos anbetete, wie dein Vater behauptete, dann trat sie mit all ihren Sünden belastet vor ihn. Ich hatte keine Ahnung, was den Toten frommen mochte. Ich war selbst nur noch ein leeres Loch.
Zwei tanzende Puppen
Wie kann ich dir begreiflich machen, was ich empfand, als meine Mutter starb? Deine Mutter starb bei deiner Geburt, du hast sie nicht gekannt. Und so sehr du auch unter deiner Einsamkeit gelitten haben wirst, hattest du doch immer deinen Vater Prospero, das Fundament, auf dem dein Leben ruhte. Außerdem wußtest du selbst in deinem Inselexil, daß es noch andere Menschen auf der Welt gab, und manche davon waren gut zu dir gewesen, ja
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