Die Insel des Mondes
Ja, ihre Nase war zugeschwollen, aber sogar mit einer schweren Erkältung war sie sonst noch in der Lage, etwas zu riechen.
Sie versuchte verzweifelt, irgendein Aroma in der wenigen Luft, die durch ihre Nase gelangte, zu erkennen. Nichts.
Nirina begann zu zappeln und lenkte ihre Aufmerksam keit wieder auf ihn zurück, geistesabwesend griff sie nach sei nem Händchen. »Das, mein kleiner Prinz«, flüsterte sie, »das wäre das Ende. Ohne meine Nase kann ich alles vergessen.«
Sie erhob sich mühsam, getrieben von dem Gedanken herauszufinden, wie schwer ihre Nase verletzt war.
Sie lief mit Nirina auf dem Arm und einer Horde Kinder im Schlepptau zu Villeneuve, der sich auch schon umgezogen hatte.
»Haben Sie einen Spiegel?«, fragte sie ihn und erwartete, dass er etwas von eitlen Frauenzimmern antworten würde.
»Das wollen Sie nicht sehen.«
»So schlimm?«
Er nickte. »Es wird eine Weile dauern, bis das wieder abgeheilt ist.« Er trat näher zu ihr hin, und es kam ihr sehr seltsam vor, dass sie ihn nicht riechen konnte. Sie versuchte sich zu erinnern. Wacholderbeere, indische Zimtrinde, Zypresse. Nichts, nichts, nichts. Er war einfach nur irgendein Mann. Sie schluckte.
»Was ist los?« Villeneuve legte seine Hand unter ihr Kinn und zog sie so ein bisschen näher. Seine braungrünen Augen waren nun sehr dicht vor ihrem Gesicht.
Paula erstarrte.
»Ich glaube nicht, dass Ihre Nase gebrochen ist, aber ich kann nur hoffen, dass die Schleimhäute nicht ernsthaft verletzt worden sind.«
»Was bedeutet das?«
Er wand sich.
»Na los, mich kann eigentlich nichts mehr erschüttern«, log Paula.
»Anosmie.«
»Was ist das?«
»Darunter versteht man den Verlust des Geruchsvermögens. Allerdings geschieht das eher durch eine Gehirnverlet zung, bei der der Bulbus olfactorius oder die Lamina cribrosa verletzt worden sind, als durch eine Infektion oder eine Nasenverletzung.«
Paula starrte ihn an, und ihr erster Gedanke war, dass Anosmie für sie weitaus schlimmer war, als von Krokodilen gefressen zu werden.
Was sollte denn dann aus ihr werden?
»Manchmal ist das nur ein vorübergehender Zustand, oder es ist das Gehirn, das uns einen Streich spielt.«
An diesen Strohhalm konnte sich Paula nicht klammern, Ärzte belogen einen immer darüber, wie schlimm es wirklich war. Bei Karls Infektion am Bein hatten sie gelogen, ebenso wie bei den Prognosen zu ihrem Sohn. Und schon gar niemand hatte ihr verraten wollen, was die Narbe an ihrem Bauch in Wahrheit zu bedeuten hatte. Das hatte sie dann selbst herausgefunden und lächerlicherweise geglaubt, das Ausbleiben der Blutung bedeute, dass sie erneut schwanger sei. Was mehr als grotesk war, weil seit der Geburt ihres Kindes kein Mann sie mehr angerührt hatte.
Paulas Augen standen voller Tränen. Villeneuve konnte nicht wissen, was das für sie bedeutete. Sie drückte ihm Nirina in den Arm, dieses Kind hatte schon genug Elend gesehen. Sie musste allein sein, sie musste nachdenken.
Paula lief zu ihrem Zelt, griff nach Mathildes Buch, presste es an sich und rannte vor ihm davon, vor den Dorfkindern, vor sich selbst, vor dem, was von ihrem Leben noch übrig war.
35
Dem fliehenden Feinde baue goldene Brücken
N icht einmal die Krokodile wollten sie fressen. Das kommt mir nun doch höchst merkwürdig vor, und ich verstehe, dass diese Wilden daraus eine große Sache machen. Doch es erscheint mir ungerecht. Ich hätte es beinahe geschafft, mir die Tasche unter den Nagel zu reißen, aber Noria hat darauf bestanden, dass wir Madame Kellermann helfen. Nicht, dass ich mir von Weibern sagen ließe, was ich zu tun habe. Aber dann hat mir Noria all die Wartenden am Fluss gezeigt, Dutzende von Augenzeugen, und noch dazu machten die Krokodile keine Anstalten, das Floß zu umrunden. Also musste ich schon wieder gute Miene zum bösen Spiel machen. Dieses Kellerman n -Weib scheint die gleichen Anlagen zur Hexe in sich zu tragen wie ihre Großmutter. Meine Mutter hat immer gewusst, dass Mathilde eine Hexe ist, die unsere Plantage verflucht hat. Denn unser Niedergang begann, nachdem sich dieses infame Weib mit einem Sklaven einließ und dann aus geiler Lust auf die Idee kam, Edmond sei ein Heiliger und mein Vater ein geldgieriger Sünder. Sie war nicht nur ungebildet, sondern auch noch kriminell. Ich werde nie das Weihnachten vergessen, an dem ich zu Hause bleiben musste, zur Strafe für mein schlechtes Benehmen. Niemand war mir dankbar dafür, dass ich den Dieb benennen konnte, mein Vater
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