Die Insel des Mondes
fest, schlitterte aber selbst ein Stück über die Plattform.
»Das kommt davon!«, schimpfte Morten und machte sich mit Villeneuve daran, das Floß wieder flottzumachen.
Sie waren jetzt schon so nah an der anderen Uferseite, dass Paula die offensichtlich aufgebrachte Menge, die sich dort eingefunden hatte, nicht nur sehen, sondern auch hören konnte.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Paula Noria.
»Nichts Gutes wahrscheinlich!«, murmelte Morten.
Noria lächelte ihnen beruhigend zu. »Sie haben gesehen, wie Madame Kellermann ins Wasser gesprungen ist und nicht gefressen wurde. Sie singen darüber, dass die Krokodile Abstand gewahrt haben.«
»Und was heißt das?« Paula hatte Angst, es könnte etwas ganz besonders Schlimmes bedeuten.
»Ich denke, dass wir ab jetzt wieder Träger haben werden.«
Morten und Villeneuve stakten das Floß die letzten Meter zum Ufer, dann zogen die dort auf sie wartenden Madagassen sie ganz an Land.
Paulas Kleider klebten an ihrem Körper, und aus ihrer stark geschwollenen Nase tropfte noch immer Blut. Sie wünschte sich nur noch einen Platz zum Ausruhen. Ihr Blick fiel auf Villeneuve, dessen Hosen nass an seinen Beinen klebten und dessen Unterkörper sich durch den Stoff hindurch genau abzeichnete. Seine extrem muskulösen Waden und Oberschenkel gefielen ihr nicht nur, dieser Anblick berührte etwas in ihr. Sie hätte gern ihre Hand daraufgelegt und gespürt, wie sich das anfühlte. Warum war er ins Wasser gesprungen, wenn er gar nicht schwimmen konnte? Weil er Arzt war? Wegen ihr? War das möglich?
Sie wurde von Noria aus ihren Gedanken gerissen, diese debattierte laut mit einem Madagassen, und Paula hätte nicht sagen können, ob es ein freundliches oder ein abweisendes Gespräch war.
Aber dann kam Noria zu ihnen und erklärte ihnen, der Mann sei der Dorfvorsteher und hätte alle herzlich zu einem Fest eingeladen, das man für sie und zu Ehren der Ahnen und der Krokodile feiern würde.
Paula war nicht nach feiern, sie war müde und sehnte sich nur danach, die nassen Kleider auszuziehen und dann zu schlafen, aber sie wollte nicht unhöflich sein.
Der Dorfälteste geleitete sie zu einem Platz, wo sie ihr Lager aufschlagen konnten, einige Männer halfen Morten und Villeneuve dabei, die Zelte aufzubauen, Frauen brachten ihnen Wasser und eine große Platte mit Ananas, Pampelmusen und Cherimoyas.
Paula suchte trockene Kleider und einen Platz, um sich ungestört umzuziehen, aber das war nicht leicht, denn die Kinder des Dorfes, die zu ihren komplizierten Flechtfrisuren einen Lamba um die Hüften trugen, schlichen um sie herum und starrten sie an. Als Paula Noria fragte, warum die Kinder sie nicht aus den Augen ließen, lachte Noria und erklärte ihr, dass die Kinder zwar schon einmal einen weißen Mann, aber noch nie eine weiße Frau gesehen hätten und nicht glauben könnten, das sie wirklich aus Fleisch und Blut sei. Paula sah die Kinder an, schob ihren nassen Ärmel hoch und deutete auf ihren Arm, lud die Kinder mit einer Geste ein, ihn anzufassen, und zwei ganz mutige Jungen kamen näher und kicherten. Dann tippten sie für eine Sekunde auf ihren Arm und rannten sofort weg, wo sie sich wieder die Bäuche vor Lachen hielten. Das war so ansteckend, dass Paula unwillkürlich auch lachen musste. Und als sie aufstand, um sich jetzt wirklich umzuziehen, folgten sie ihr wie dem Rattenfänger von Hameln.
Noria hatte Erbarmen mit ihr und redete mit den Kindern, die nur höchst widerwillig abzogen.
Nachdem Paula ihre Kleider gewechselt hatte, waren die Zelte schon aufgebaut, und Noria brachte ihr Nirina und eine Tasse Tee.
Paula breitete ihre nassen Sachen und das Buch von Mathilde zum Trocknen aus, nahm Noria den Kleinen ab und setzte sich auf die Matte, woraufhin die Kinder sofort wieder zu ihr rannten und sich vor Lachen ausschütten wollten, als sie Nirina auf Paulas Arm sahen.
Sie flüsterten miteinander und sahen dann immer wieder zu ihr herüber. Paula vermutete, dass sie sich Gedanken darüber machten, ob sie, diese weiße Frau, die leibliche Mutter des dunkelhäutigen Nirina war.
Bin ich deine Mutter,? fragte sie sich und betrachtete Nirina eindringlich. Ich glaube ja, dachte sie verblüfft, ich glaube, das bin ich wirklich. Du gehörst zu mir, du bist meine Zukunft, so wie Mathilde und die Vanille und das Parfüm. Sie brachte den Jungen an ihr Gesicht, um seinen wunderbaren Duft einzuatmen.
Nichts. Da war nichts. Nirina roch nach nichts. Verwirrt hob sie den Kopf.
Weitere Kostenlose Bücher