Die Insel des Mondes
Spinnenseide, eine blinde Nase und, na gut, das Einzige, wo du nicht zur Gänze versagt hast, ist Nirina, ein immerhin lebendes Kind, aber leider hat es keine Familie.
Es hat mich, schluchzte Paula trotzig und wischte die Tränen weg, es hat doch mich.
O ja, was für eine Mutter! Springt eine gute Mutter in ei nen Krokodilfluss? Und wo ist der Kleine denn jetzt gerade? Und von was wollt ihr beide leben? In diesem Zustand kannst du nicht einmal Vanille anbauen, geschweige denn Parfüms kreieren. Vergiss es.
Paula schluchzte heftig, ihre Schultern zuckten, und Mathildes Buch entglitt ihren Armen, die sie nun schützend um ihre Brust legte, während sie ihren Körper vor und zurück wiegte, wie um sich zu trösten. Das Buch fiel neben ihre Füße, genauso nutzlos wie ihre Nase. Nutzlos wie ihre Existenz. Unnütz, unfruchtbar, unnatürlich, Worte mit u.
Ein Geräusch hinter ihrem Kopf ließ sie zusammenzucken. Es war viel zu zart, um von einem Menschen zu sein. Sie drehte sich um, nichts. Immerhin hatte das Geräusch sie aus dieser sinnlosen Gedankenspirale gerissen, und das war gut so, sie musste sich jetzt darauf konzentrieren, wie es weiter gehen konnte. Sie bückte sich nach Mathildes Buch, da hörte sie wieder einen dumpfen Laut, dem leises Geraschel folgte.
Es war immer noch über ihrem Kopf, und diesmal war es viel näher. Aber so sehr ihre Augen die Bäume absuchten, sie konnte nichts entdecken. Sie zuckte mit den Schultern und bückte sich wieder nach dem Buch. Plötzlich landete etwas Schweres mit vier Beinen und scharfen Krallen auf ihrem Rücken.
Paula schrie laut auf, sprang hoch, drehte und wand sich, aber das Ding ließ sich nicht abschütteln. Sie griff nach hinten und erschrak wieder, als sie etwas unerwartet Flauschiges in ihren Händen fühlte, und ließ es sofort los. Sie blieb stocksteif stehen, während ihr Herz raste. Was war das?
Dann kletterte das Tier auf ihre Schulter, Paula drehte angstvoll den Kopf und zuckte zusammen, als sie in die großen bernsteinfarbenen Augen eines kleinen graubraunen Lemuren blickte.
In dem Augenblick, als sich ihre Blicke begegneten, sprang der Lemur von ihrer Schulter auf Mathildes Buch, und von dort kletterte er so schnell auf den nächsten Baum, dass Paula sich nicht sicher war, ob sie sich das nicht alles nur eingebildet hatte. Ihr Puls dröhnte immer noch in ihren Ohren. Dieser Lemur hatte ganz anders ausgesehen als der, den sie am Morgen von Lázlós Tod gesehen hatte, der von eben hatte keine schwarzen Fellbüschel an den Ohren, und er war sehr viel kleiner. Sie setzte sich wieder hin und griff nach dem Buch, das durch den Aufprall merkwürdig außer Form geraten war.
Es fühlte sich auch anders an.
Der rote Ledereinband hatte sich gelockert, die Polsterung rutschte unter dem Leder hervor.
Polsterung?
Paula zog daran und musste zweimal hinschauen, um zu verstehen, was sie da in der Hand hatte.
Es war feuchtes, aber noch versiegeltes Wachstuch, in dem etwas verborgen war. Sie hielt vor lauter Spannung die Luft an und erbrach das Siegel. In dem Wachstuch war ein dicker, ein sehr dicker Brief verborgen. Mit zitternden Fingern faltete sie die Papiere auseinander, die Schrift hatte keinen Schaden genommen, und Paula kannte sie. »Meine geliebte Florence …« Es war ein Brief von ihrer Großmutter an ihre Mutter, den sie vor mehr als zwanzig Jahren geschrieben hatte. Was für ein Geschenk! Paula tupfte ihre Nase mit einem Taschentuch ab und vertiefte sich in die Worte ihrer Großmutter.
Ambalava, am Morgen des achten August 1 85 6
Florence, meine geliebte Tochter …
Während des Lesens musste Paula immer wieder pausieren, weil sie so überwältigt war, und sie bedauerte es unendlich, dass ihre Mutter diesen langen Brief nie gelesen hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie tiefes Mitleid mit ihrer Mutter und konnte verstehen, warum es ihr immer so wichtig gewesen war, alles richtig zu machen, ganz so, wie es sich ziemte. Sie verstand endlich, wie verzweifelt ihre Mutter dazugehören wollte. Paula, die sich bisher für tolerant und liberal gehalten hatte, war hin- und hergerissen. Vor ihrer Ehe hatte sie es unglaublich romantisch gefunden, sich in Heathcliff aus Sturmhöhe zu verlieben. Heute wusste sie, dass es nicht romantisch war, einen gestörten Mann zu heiraten. Es war ihr ein Rätsel, wie man einen Mann lieben konnte, der nur halb so alt war wie man selbst und der einem völlig anderen Kulturkreis entstammte. Ihre vor Mut nur so
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