Die Insel des Mondes
strotzende Großmutter und ein ehemaliger Sklave – war es überhaupt möglich, unter diesen Umständen auf Dauer zusammen glücklich zu werden? Oder hatte sich Mathilde, nach all den Jahren in der Gefangenschaft des Piraten Le Thomas, vielleicht gerade in Edmonds Sanftheit verliebt? Und vielleicht war es wiederum ihr Mut, den Edmond so anziehend gefunden hatte. Paula malte sich aus, wie Edmond bei seiner hingebungsvollen Arbeit auf der Plantage das Geheimnis der Vanille still und leise entdeckt hatte, und dabei dachte sie an den köstlich samtigen, schweren Duft von Vanille und seufzte. Sie griff sich an ihre geschwollene Nase, hob den Ledereinband hoch, um daran zu riechen, aber da war nichts. Ihre Nase war tot. Was wohl Mathilde an meiner Stelle getan hätte?, fragte sie sich. Und ihre innere Stimme wusste sofort, dass Mathilde jedenfalls niemals heulend durch den Dschungel gerannt wäre, sie hätte sich zusammen gerissen und einen anderen Weg gesucht. Ihre Großmutter hatte gekämpft, ja sogar gestohlen, um das, was sie für richtig hielt, zu erreichen.
Aber ich bin nicht Mathilde. Paula überlegte zum ersten Mal, seit sie zu dieser Reise aufgebrochen war, warum sie ihre Großmutter niemals infrage gestellt hatte, so wie ihre Mutter. Ihre Mutter hatte sie in diese höllische Ehe gezwungen, hatte sie immerzu gedrängt, das Richtige zu tun, deshalb war die Beschäftigung mit den Rezepten ihrer Großmutter immer ihr Fluchtweg aus dem Regelkorsett ihrer Mutter gewesen. Ihr dämmerte, dass sie darüber hinauswachsen musste. Ihr Leben war bisher immer nur eine Reaktion auf das gewesen, was sie vorgefunden hatte, aber sollte sie nicht besser darüber nachdenken, was sie in ihrem Innersten bewegte? Was wollte eigentlich sie selbst?
Warum nur hatte ihre Großmutter so ein Gewese darum gemacht, den Brief zu verstecken? Wie hatte sie ernsthaft glauben können, dass ihre Tochter sich die Mühe machen würde, nach etwas zu suchen, von dessen Existenz sie nichts wusste? Paula hoffte, dass sich all das im letzten Teil des Briefes klären würde.
37
Mathildes Brief
Ambalava, am Morgen des 12. August 1 85 6
Meine geliebte Florence,
ich war auf der Suche nach einer Pflanze, deren gelb-orange Blüten einen Duft verströmen, der dem von Ylang-Ylang nicht unähnlich ist, aber nicht ganz so betäubend, frischer. Allerdings ist er, anders als Ylang-Ylang, äußerst mühsam zu macerieren, leider kommt keine andere Methode dafür infrage. Weil es mir – noch – nicht gelungen ist die Pflanze zu kultivieren, muss ich sie also jedes Mal suchen. Aber für mein Parfüm Vanille d’Or ist mir das Beste gerade gut genug, denn ich möchte, dass es das großartigste Parfüm der Welt wird. Ein Duft, den man in hundert Jahren noch tragen wird, und ich habe auch ganz genaue Vorstellungen, wie das Flakon aussehen soll. Es muss blau sein, wie die, die ich dem Priester mitgeben werde. Blau wie die Schmetterlinge, die Edmond und ich in unserer ersten gemeinsamen Nacht gesehen haben. Blau wie die Lavendelfelder, blau wie der Himmel in der Provence, aus der dein Vater Copalle stammt. Die Buchstaben »E« und »M« sollen ineinander verschlungen auf der Rückseite des Flakons in goldenen Buchstaben eingraviert sein.
Ich habe Edmond jeden Tag ins Gefängnis geschrieben, aber ich bin nicht sicher, ob ihn meine Briefe erreichen. Natürlich kann ich ihm genauso wenig offen schreiben wie Dir, denn die Gefahr ist groß, dass jemand mein Wissen für seine Zwecke ausnutzt, dabei sollen nur Du und Edmond davon wissen. Nun, ich habe also an meinem Parfümtraum experimentiert. Neben Vanille enthält er Magnolia-Chamapakablüten, dazu Sandelholz und Pampelmuse – in Frankreich hätte ich Palmarosa verwendet oder echte Grapefruit, aber die wächst hier nirgends. Dann natürlich der wundervolle, gelb blühende Ylang-Ylang. Ich bin sehr froh, dass es mir gelungen ist, ihn neben der Vanille in großen Mengen zu kultivieren. Er hat einen unglaublich feinen, würzigen Geruch, der an Narzissen und Hyazinthen erinnert. Doch leider ist er sehr flüchtig und nicht sehr intensiv, sodass ich große Mengen davon benötige. Auf einen Liter Weingeist muss ich mit 45 Gramm Ylang-Ylang-Öl rechnen, aber ich brauche 100 Kilo Blüten, um 1 200 Gramm Öl zu erhalten, und davon verströmen auch nur die ersten 600 Gramm diesen herrlichen Geruch, der nachfolgend destillierte Rest ist beinahe geruchlos. Oh, ich schweife ab, wann immer ich auf mein Lieblingsthema komme, dabei
Weitere Kostenlose Bücher