Die Insel des Mondes
hatte ihr immer noch keine Antwort auf ihre Frage gegeben.
Vierundzwanzig Jahre … Die Frau sah mehr als doppelt so alt aus. »Hat die ehrwürdige Frau Rakotovao meine Großmutter gekannt, kann sie mir vielleicht sagen, was geschehen ist, damals vor vierundzwanzig Jahren?«
Noria übersetzte Paulas Frage und dann die nachdrückliche Antwort, die mit einem starken Kopfschütteln der Dorfältesten einherging.
»Frau Rakotovao sagt, dass diese Frau verrückt gewesen sei.«
»Meine Großmutter war ganz und gar nicht verrückt!«
Die Frau, eine hagere Alte, die in zwei weiß-rote, schon sehr fadenscheinige Lambas gehüllt war, aber mehr Würde ausstrahlte als Morten und Villeneuve zusammen, wurde jetzt deutlich lauter, aber sie wirkte trotzdem immer noch sehr beherrscht und unerschütterlich. »Mahery tsy maody tsymba ela velona«, wiederholte sie ein ums andere Mal.« Noria übersetzte es und erklärte ihr, dass es sich um ein madagassisches Sprichwort handelte. » Wer nur stark ist, ohne vorsichtig zu sein, den erwartet kein langes Leben . Sie meint, diese Frau sei verrückt gewesen, weil sie nicht weggelaufen ist, als noch Zeit dazu war. Die Anhänger von Königin Ranavalona I. wollten keine Christen hier in der Gegend. Die Christen haben die Cholera gebracht und die Lepra, und die Ahnen des Dorfes verlangten nach einem Opfer.«
»War Frau Rakotovao dabei?«, fragte Paula.
Noria übersetzte die Frage nicht.
»War sie dabei? Was ist damals geschehen?«, wiederholte Paula und hätte die beiden am liebsten geschüttelt. Sie seufzte leise, streichelte Nirinas Kopf und ermahnte sich. Mora-Mora, Geduld, sagte sie sich, Geduld. Sie musste es anders versuchen. »Wird sie mir dann wenigstens verraten, wo ich die Gebeine meiner Großmutter finden kann?«
Über Norias Gesicht lief ein Zucken, dann erbarmte sie sich und fragte die Dorfvorsteherin, die wieder nur schwieg. Nach ein paar Minuten fasste Noria noch ein paarmal nach, jedes Mal drängender.
Schließlich deutete Frau Rakotovao auf das offene Meer.
»Was soll das heißen?«
»Ihre Großmutter ist ertrunken.« Noria sah ihr direkt in die Augen, was sie nur selten tat, und Paula war sicher, dass sie log.
»Wie, ertrunken?« Paula starrte zu der Brandung hinüber, dort sollte ihre Großmutter baden gegangen sein?
Noria und die Dorfvorsteherin blickten sich lange an. Niemand sagte etwas. Dann seufzte Rakotovao und nickte Noria zu.
»Man hat sie zusammen mit drei anderen Christen über die Klippen springen lassen.« Noria gab sich Mühe, so zu tun, als ob das völlig in Ordnung sei, aber es gelang ihr nicht ganz.
Paulas Verstand weigerte sich, das zu begreifen. Deshalb fragte sie, mit Blick auf den flachen Strand, als Erstes: »Klip pen, welche Klippen?«, während in ihrem Kopf ein Trommel feuer von Fragen losging. Ihre Großmutter hatte sich also ge täuscht, es war gefährlich gewesen, zu bleiben – der Priester hatte recht gehabt. Sie musste unbedingt mehr wis sen. Was war genau passiert, hatte ihre Großmutter leiden müssen?
Jetzt redete die Dorfvorsteherin ohne Unterlass auf Noria ein, als wäre ein Damm gebrochen.
Paula wartete ab, obwohl sie sich kaum beherrschen konnte.
»Zwischen den Stränden sind immer wieder hohe Steinklippen, sie wird Ihnen zeigen, wo es geschehen ist.«
Noria und Rakotovao marschierten los, der Weg führte an Pfeffer- und Pampelmusenbäumen vorbei, die Paula voller Trauer betrachtete, weil nichts, leider gar nichts von diesem herrlichen Aroma an ihre Nase drang. Während sie den beiden laut debattierenden Frauen folgte, beschlich Paula ein seltsames Gefühl. Morten war im Dorf geblieben, um sich dort nach einem geeigneten Bauplatz für seine Missionsstation umzusehen, und Villeneuve hatte ihn begleitet, weil er besser Französisch konnte als Morten. Ir gendetwas war hier faul, das spürte sie, aber sie hätte nicht sagen können, was. Jetzt wünschte sie, ihre Reisegefährten wären auch hier. Sie drückte Nirina fester an sich. Oder wurde sie langsam ein bisschen seltsam? Die neue Königin war Christin, niemand würde heute mehr Christen über Klippen jagen.
Wie sich ihre Großmutter damals gefühlt hatte, als sie diese Klippen hochsteigen musste? Es fiel Paula schwer, sich Mathilde ängstlich vorzustellen, aber sie musste Angst gehabt haben, sogar sie. Und wie hatte Edmond davon erfahren, hatte er es überhaupt jemals erfahren? Was war geschehen, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war? Das war ihr bei der
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