Die Insel des Mondes
Lektüre des Briefes nie in den Sinn gekommen. Sie hatte immer nur an ihre Großmutter gedacht.
Was war überhaupt aus ihm geworden? Er war 1856 doch noch ein junger Mann gewesen. Und plötzlich durchfuhr sie ein ganz neuer Gedanke – vielleicht lebte er noch!
Rakotovao wandte sich nach links, wo ein sehr schmaler Trampelpfad zwischen Kokospalmen, Bananenstauden und Pampelmusenbäumen einen Berg hinaufführte, was mit dem blaugrünen Meer im Hintergrund endlich genau so fruchtbar und einladend aussah, wie sich Paula den tropischen Regenwald vorgestellt hatte.
Der Pfad wurde noch viel steiler, sie begannen alle zu keuchen, und mit jedem Schritt wog das Gewicht des Kindes schwerer. Die Pflanzen lichteten sich, mehr und mehr trat der nackte rötliche Fels zutage. Neben dem Rauschen der Wellen hörte Paula jetzt auch ein lautes Donnern, und immer wieder vibrierte der Felsen unter ihren Füßen. Die Sonne brannte so klar vom blauen, wolkenlosen Himmel, dass alle Umrisse auf Paula wie ausgeschnittene, körperlose Kanten wirkten.
Die Dorfvorsteherin blieb stehen und rang nach Luft, der Schweiß lief ihnen allen über das Gesicht.
Das letzte Stück war gänzlich unbewachsen, nur hin und wieder entdeckte Paula rosa blühenden Christusdorn, der sich durch einzelne Felsspalten der Sonne entgegenzwängte.
Es wies nichts darauf hin, dass hier Menschen zu Tode gekommen waren.
Dann hatten sie es geschafft. Rakotovao ging gefährlich nah an die Kante des Felsens und winkte Paula und Noria zu sich. Noria wurde blass und rührte sich nicht von der Stelle, Paula überwand ihr Unbehagen, trat zu ihr und sah über Nirinas Köpfchen nach unten. Die Klippe, auf der sie standen, war ein Überhang. Unter ihr war der Berg vom Meer ausgeweidet worden, und Paula konnte sich vorstellen, dass dieser Überhang schon bald ins Meer stürzen würde. Es fiel ihr schwer, die Entfernung hinunter zum Meer zu schätzen, drei-, vierhundert Meter vielleicht. Unten tobte der Indische Ozean über eine Armee aus Felsblöcken und rammte dann seine ganze Wassermacht in den ausgehöhlten Bauch des Berges. Unwillkürlich sog sie die Luft ein, in der Hoffnung, etwas von der sicher mit Algen und Salz geschwängerten Luft zu riechen oder auf der Zunge zu spüren, aber vergeblich.
»Hier? Ihre Gebeine liegen also dort unten irgendwo?«
Die Dorfvorsteherin nickte und lächelte, was Paula voll kommen unangemessen fand. Diese Frau war ihr unheimlich.
»Aber warum? Soweit ich weiß, hat meine Großmutter niemandem etwas zuleide getan.«
Noria zog Paula von der Kante weg und begann wieder zu übersetzen. »Es war eine schwierige Zeit damals. Im Dorf war die Cholera ausgebrochen, und der Dadarabee machte Mathilde dafür verantwortlich. Das ganze Dorf hat Mathilde und zwei Priester, die auf dem Weg zu einer Missionsstation waren, in der Nacht mit Fackeln und Trommeln hier hinaufgetrieben.« Noria hielt kurz inne. »Und hier hat man sie dazu gezwungen, ins Meer zu springen.«
Noria fragte die Dorfvorsteherin noch etwas, dann übersetzte sie die Antwort: »Frau Rakotovao sagt, es tue ihr leid, es erfülle sie heute mit Scham, dass ihr ehrenwerte r Vater so etwas getan hat.«
»War sie denn auch dabei?«
Noria nickte.
»Und warum hat ihr Vater das getan?«
»Er war der Dadarabee und hat nach einem langen Disput mit den Ahnen das Dorf davon überzeugt, dass es der einzige Weg war, sie zu versöhnen.«
»Und wie denkt sie heute darüber?«
»Diese Frage kann ich nicht übersetzen, niemals würde Rakotovao Kritik an ihrem verstorbenen Vater üben.«
Paula seufzte, diese Ahnen waren wirklich praktisch, man konnte sie für alles verantwortlich machen. »Dann frag sie bitte, was meine Großmutter getan hat. Hat sie etwas ge sagt?«
Noria wandte sich wieder an Rakotovao, sie wurden so leise, dass Paula sie nicht verstehen konnte. Als Noria sich umwandte, hatte sie Tränen in den Augen. Paula hatte Noria noch nie so bewegt gesehen, nicht einmal nach Lázlós Tod.
Was war hier los?
»Niemand hat damals Mathildes Sprache gesprochen, aber dieser Abend hat sich so fest in Frau Rakotovaos Gedächtnis eingebrannt, dass sie sich noch an drei Worte erinnern kann: Vanille, weil sie dieses Wort kennt. Kuckuck, weil es einen hübschen Klang hat, ähnlich wie Tsakitsaky, und dann, als Letztes hat Ihre Großmutter …«, Noria holte tief Luft und war dann trotzdem kaum mehr zu verstehen, »… hat Ihre Großmutter, sogar noch im Fallen, immer nur einen Namen gerufen:
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