Die Insel des Mondes
amtierende Königin, die Christin Ranavalona II., noch nichts hatte ändern können. Obwohl die Königin hart daran arbeitete, unchristliche Sitten wie die Polygamie abzuschaffen, war es ihr noch nicht gelungen, die uralten Bräuche der Madagassen abzuschaffen oder auch nur infrage zu stellen.
Paula setzte sich zu ihren Reisegefährten auf eine der Matten am Feuer. Dabei spürte sie, dass sie blaue Flecken von ihrem Sturz davongetragen haben musste, aber sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als zu stöhnen.
Sie griff nach der Teekanne und goss sich noch einen Becher Zitronengrastee ein. Die Männer waren schon zu billigem Rum übergegangen. Lázló reichte ihr die Flasche, aber sie lehnte ab. Rum stieg ihr viel zu schnell in den Kopf, und es wäre sehr unklug gewesen, die Kontrolle über sich zu verlieren. Sie blieb beim Tee und verzichtete auch auf das traditionelle Reiswasser, Ranovola, das die Träger und Noria zum Essen tranken. Dazu wurde der angebrannte Bodensatz, der beim Kochen des Reises entstand, mit einer extra Portion Wasser aufgekocht und dann noch warm zum Essen getrunken.
Wie jeden Tag gab es Reis. Vary. Und dazu eine Suppe aus Kräutern, die Noria unterwegs gesammelt hatte. Morgens wurde der Reis mit viel Wasser zu Brei aufgekocht, zu Vary sosoa, und manchmal servierte Noria ihn auch mit in Salzwasser gekochten Kokosspänen darin. Mittags gab es entweder eine Suppe mit Reis oder in Kokosmilch gekoch ten Reis mit gestampften Maniokblättern und klein gehack ten Tomaten, was Paula nicht besonders mochte, da die Maniokblätter die Konsistenz von mehligem Gras hatten. Trotzdem schmeckte alles sehr gut, weil Noria reichlich von dem rauchigen madagassischen Pfeffer verwendete. Außerdem wurde zu jedem Essen eine Paste aus Ingwer, Knoblauch, Chili und Limonenfleisch gereicht, die auch noch die fadeste Suppe in eine Köstlichkeit verwandelte.
Paula aß zwei große Teller Suppe mit Reis und war immer noch nicht satt, aber sie spürte den Blick von Noria auf sich, die nur kleinste Mengen verzehrte, und kam sich vor wie zu Hause, wenn ihre Mutter sie ermahnte, wie eine Dame zu essen und nicht wie ein Bierkutscher.
Immerhin hatte Noria noch ein Bündel Afintsa für sie alle, köstliche kleine, in der Sonne getrocknete Bananen.
Es herrschte eine geradezu andächtige Stille, die nur von dem allgegenwärtigen Summen der Mücken durchbrochen wurde, und Paula war das nur recht, denn wenn die Männer Rum getrunken hatten, gerieten sie schnell in Streit, auch wenn sie sonst so taten, als wären sie die besten Freunde. Manchmal kam es Paula so vor, als ob die drei etwas verband, von dem sie keine Ahnung hatte. Das Holz rauchte mittlerweile nur noch leicht, denn das Feuer hatte die meiste Feuchtigkeit bereits verdunsten lassen, weshalb es nun besser und heller brannte und etwas Wärme verbreitete. Paula war froh darüber, denn obwohl es Sommer war, wurde es nachts hier oben im Hochland deutlich kühler.
»Morgen feiern die hier Silvester.« Mortens Nuscheln wurde mit jedem Schluck Rum schlimmer, sodass Paula ihn zuerst gar nicht verstanden hatte.
»Silvester im November?« Lázló wandte sich an Noria.
Die nickte. »Unser Jahr in Madagaskar folgt dem Mond und ist in zwölf Monate mit jeweils achtundzwanzig Tagen eingeteilt, es hat also 336 Tage.«
Paula hörte gar nicht richtig zu. Silvester, dachte sie. Ihr letztes Silvester hatte sie auf dem Schiff in der Nähe vom Kap der Guten Hoffnung verbracht, allein in ihrer Kabine, seekrank und höchst melancholisch. Das Silvester davor hatte sie gänzlich aus ihrem Gedächtnis gestrichen.
»Dann sollten wir morgen Abend feiern!«, schlug Lázló vor.
»Auf Madagaskar ist der Beginn des neuen Jahres immer ein großes Fest, Alahamady«, mischte sich Noria wieder ein.
»Man sollte die Bräuche seines Gastlandes ehren.« Lázló lächelte breit zu Noria hinüber.
»Nur wenn sie nicht allzu heidnisch sind«, nuschelte Morten.
»Es wäre mir lieber, wir kämen vorwärts.« Villeneuve seufzte.
Noria stand auf und warf ein paar kleine Scheite ins Feuer, das sofort wieder zu qualmen begann. »Wir werden morgen Ambohimanga erreichen.«
Warum nur, dachte Paula gereizt, klang Noria immer so düster wie Kassandra, die der Welt das dräuende Unheil verkündet?
»Dann hätten wir zwei Gründe zu feiern«, stellte Lázló fest.
»Das werden wir erst nach unserem Gespräch mit Königin Ranavalona wissen, und dann muss ich weiter, meine Gemeinde wartet auf mich.«
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