Die Insel des Mondes
Morten nuschelte noch stärker als zuvor, und Paula stellte sich unwillkürlich vor, wie er in diesem Zustand eine Predigt hielt. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. Seine Trunkenheit erinnerte sie daran, wo sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte, und sie musste sich das Lachen noch fester verbeißen.
Es war bei Madame Rivet im Fröhlichen Flamingo gewesen. Ein kleiner Junge hatte, kurz nachdem sie bei dem Totenwaschfest gewesen war, an ihre Tür geklopft und ihr einen versiegelten Brief überreicht.
Chère Mme. Kellermann,
der Ruf Ihrer Seife ist bis zu uns gedrungen, und wir würden uns freuen, wenn wir uns zu Ihren regelmäßigen Kunden zählen dürften. Jim, der Überbringer dieser Zeilen, wird Ihnen den Weg zum Fröhlichen Flamingo zeigen.
Voll der Hochachtung
Ihre ergebenste Dienerin Madame Rivet
Neugierig und im Glauben, dass es sich um ein Hotel handelte, war sie dem Jungen über matschige Wege gefolgt.
Nachdem sie eine halbe Stunde lang nur an baufälligen Holzhütten vorbeigekommen waren, hatten sie plötzlich vor einem steinernen Haus mit umlaufender, weiß lackierter Holzterrasse und zwei großen Säulen gestanden, die den mächtigen Eingang, ein rotes geschnitztes Tor, bewachten.
Man hatte sie schon erwartet, die Tür öffnete sich wie von Zauberhand, und dann stand sie vor Madame Rivet.
Paulas Nase wurde schnell klar, wo sie sich befand, auch wenn sie noch nie in einem Bordell gewesen war. Zuerst schlug ihr das viel zu süßliche Aroma von bulgarischem Rosenöl und Jasmin entgegen, doch auch das konnte die nach folgenden Gerüche nicht vollständig überdecken. Ungelüftete Schlafzimmer, Schweiß, Angst und fettiges Haar. Ohne die Erkenntnisse ihrer Nase hätte sie nur darüber gestaunt, hier inmitten der Wildnis einen solchen Salon vorzufinden. Die Wände waren rundum hüfthoch mit geschnitzten Eichenpaneelen verkleidet, darüber spannte sich eine gestreifte Seidentapete. Es gab schwere, mit dunkelgrünem Samt bezogene Fauteuils und schwarze englische Clubleder sessel. Auf dem dunklen Holzboden lagen dicke rote Teppiche mit orientalischen Blumenmustern, und in der Mitte des Raumes baumelte ein gewaltiger, mit Kerzen bestückter Kristalllüster schief von der Decke herab. An den Wänden hingen große Ölgemälde, Stillleben und Blumenbilder in gewaltigen barocken Goldrahmen.
Auf einem der Sessel thronte Madame Rivet, zierlich und höchst respektabel gewandet in ein taubenblaues Seidenkleid mit horizontalen Raffungen, die von Volants aus weißer Spitze gehalten wurden und über die Turnüre drapiert waren. Nur das Dekolleté war für den Nachmittag ein wenig gewagt und zerstörte den Eindruck, den ihre vollkommene Figur sonst hinterlassen hätte. Es war runzlig und verriet, dass sie schon jenseits der vierzig sein musste. Um den Hals trug sie eine rosa schimmernde Perlenkette, und an den großen faltigen Ohrläppchen baumelten silberne Anhänger, die Fruchtkörbchen darstellten.
Als sie zu sprechen begann, musste Paula sich sehr beherr schen, um ihre Überraschung zu verbergen, denn die Stimme von Madame Rivet war die eines Mannes. Sie begrüßte Paula umständlich, nötigte ihr chinesischen Tee und Ingwerplätzchen auf und kaufte ihr alle Seifen ab, die sie dabeihatte, dazu bestellte sie noch vier Dutzend orientalische und zwei Dutzend blumige und vor allem bezahlte sie auch gleich.
Gerade als Paula sich wieder verabschieden wollte, erhob sich lauter Aufruhr, und plötzlich war das Zimmer voll leicht bekleideter Damen, die Madame Rivet anflehten, nach dem Norweger zu sehen, der sie wie immer belogen und nun doch wieder kein Geld bei sich hätte.
Madame Rivet bat Paula, sie für einen Moment zu entschuldigen, warf sich in die Brust und stürmte, gefolgt von ihren Damen, davon.
Kurze Zeit später hatte Madame Rivet den offensichtlich stark angetrunkenen Mann hinter sich her zum Ausgang gezerrt und zur Tür hinausgeschoben. Dann verscheuchte sie ihre Mitarbeiterinnen und setzte sich mit heftig bebendem Dekolleté wieder in einen der englischen Ledersessel und griff zu ihrer Teetasse.
»Es ist schwierig«, hatte sie mit ihrer tiefen, vollen Stimme gesagt, »die Missionare sind am schlimmsten, sie kommen andauernd, vorgeblich wegen des Seelenheils meiner Damen – und wie könnte ich ihnen geistlichen Beistand verwehren?« Sie seufzte tief, nahm ein Ingwerplätzchen, schob es im Ganzen in den Mund und zerkaute es mit wenigen Bissen. Dann hob sie ihren Blick und betrachtete Paula
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