Die Insel des Mondes
Stille.
»Ich habe es eingetauscht gegen etwas sehr viel Wertvolleres, gegen einen Kuss.«
Paula wurde feuerrot, endlich hatte er es angesprochen.
»Das war sehr freundlich«, sagte sie lahm und wünschte, sie wäre nicht so gehemmt.
»Freundlich?« Villeneuve rutschte näher. »Freundlich?«
Unglaublich, Paula hatte durch ihn ein Gottesurteil überlebt und wusste trotzdem nicht, wie sie ihm danken sollte.
Villeneuve nahm ihr die Banane aus der Hand und streichelte ihr dabei wie unabsichtlich über die Wange.
Unfassbar, dachte Paula, kein Mensch hat je zuvor so meine Wange berührt.
Er rutschte noch näher zu ihr, nahm ihren Kopf in beide Hände und studierte ihr Gesicht.
So nah war Paula ihm noch nie gewesen, auch nicht bei ihrem Kuss vorhin. Seine braungrünen Augen kamen ihr riesig vor, schwere Schatten lagen unter ihnen, von der Nase zog sich eine steile Falte zu seinem vollen, jetzt nicht mehr so blassen Mund, und schon wieder hatte sein Bartwuchs schwarze Schatten auf seine Wangen gemalt. Und wie himm lisch er roch, wie moosiger Waldboden in der Sonne. Er rutschte noch näher und verzog seinen Mund zu einem Lächeln. Er ließ ihr Gesicht los und strich über ihre Haare, löste die Zöpfe, die man ihr am Morgen geflochten hatte, legte das wellige Haar über ihre Schultern, verweilte dort und ertastete die Kratzwunden, die der Lemur in ihre Haut eingraviert hatte, was ihn empört aufstöhnen ließ. Dann schob er seine Hände zu ihrem Hals und streichelte ihn mit seinen Fingerkuppen, von denen jede einzelne kleine elektrisierende Impulse durch Paulas Körper jagte. Unwillkürlich senkte Paula ihren Kopf, um seine Hand zwischen Hals und Gesicht festzuhalten. Sie seufzte, rückte näher zu ihm und legte ihre Hände auf seine breiten Schultern, während sie und Villeneuve sich die ganze Zeit betrachteten, als hätten sie sich noch nie zuvor gesehen. Ohne ihren Blick von seinen Augen zu wenden, raffte Paula den Lamba hoch, unter dem sie immer noch nackt war, und setzte sich rittlings auf seinen Schoß. Sie schlang ihre Beine um seine Hüften und legte ihren Kopf an seine Brust. Er umfing sie mit seinen Armen und hielt sie fest.
»Paula.« Seine Stimme klang heiser.
Paula fühlte sich seltsam schwach, so als ob sie weinen müsste, aber da war auch ein Lachen in ihr, sie dachte an den Duft von Vanille, an die lapislazuliblauen Schmetterlinge, an ihr erstes Schwimmen in dem kalten See, aber das hier war so viel schöner. Denn sie hörte seinen Puls wie ein Echo zu ihrem, und sie fühlte, wie mit jedem Schlag ihrer Herzen etwas in ihrem Bauch unter der riesigen harten Narbe dahinschmolz, und sie wusste, dass sie nicht länger allein war.
45
Verbena
Man denkt sich hier den erfrischenden Geruch, welchen die Blätter der aus Peru stammenden Aloysia citriodora Orteg. besitzen und die mit dem Geruch des Citronengrases, dessen ätherisches Öl daher auch häufig Verbenaöl genannt wird, die größte Ähnlich keit hat.
P aula hatte nicht viel geschlafen, aber sie fühlte sich am
nächsten Morgen trotzdem großartig, voller Kraft, bereit, sich der Frage zu stellen, wie es jetzt weitergehen sollte. Sie löste sich von Villeneuve, der tief und fest schlief, streichelte über seine kratzige Wange und trat aus dem Zelt, wo Noria dabei war, Nirina zu füttern.
»Noria, bitte geben Sie mir den Kleinen«, sagte Paula und fütterte Nirina weiter, »es gibt so vieles, was ich Sie fragen möchte, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Haben Sie eine Ahnung, wo Morten steckt?«
Noria schwieg, bis Paula fertig mit dem Füttern war. Erst als Paula sich den Kleinen liebevoll über ihre Schulter legte und mit ihm auf und ab ging, räusperte sich Noria.
»Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte sie dann und verschwand hinter einem der Zelte.
Als sie wiederkam, trug sie etwas in der Hand, kniete sich auf die Matten vor Paulas Zelt und bat sie, sich zu ihr zu setzen. Als Paula näher kam, erkannte sie, was es war.
Eine rostige Blechdose. Entgeistert starrte Paula auf die Buchstaben, die man teilweise noch lesen konnte. Van Houten. Eine Kakaodose. Das war die Dose ihrer Großmutter.
Sie war außerstande, etwas zu sagen, während es in ihr arbeitete. Noria hatte sie hereingelegt, sie zum falschen Grab geschickt, einfach so. Obwohl sie gewusst hatte, was es für Paula bedeutete.
Sie schluckte mehrfach, ohne einen Ton herauszubringen. Deshalb war Noria also nie erschienen, als man sie im Zelt gefangen hielt. Paula hatte
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