Die Insel des Mondes
Der Premier wandte sich wieder dem kaiserlichen Schreiben zu, während Noria sie nach draußen geleitete, wo von überallher die zwitschernde Flötenmusik erklang.
»In Kürze wird das Zebu geopfert«, erklärte Noria und bestand darauf, dass sie in ihr Zimmer zurückgehen sollten, um mit ihrer Anwesenheit nicht die heilige Zeremonie zu stören.
Kaum waren sie dort angekommen, riss Lázló siegessicher die Arme hoch.
»Es hat doch alles perfekt geklappt!« Er grinste in die Runde. »Ist doch auch schmeichelhaft für den Premier, von mächtigen ausländischen Potentaten wahrgenommen zu werden.«
»Wir sollten ihn nicht unterschätzen.« Paula hatte ihre Hausaufgaben mithilfe von Madame Rivet gründlich gemacht. »Dieser Mann war schon mit der letzten Königin, Rasoherina, verheiratet, und man munkelt, dass er am Tod von Radama II. nicht ganz unschuldig war. Außerdem musste er sich, um die Ehe mit Ranavalona II. auch christlich vollziehen zu können, von seiner anderen Frau trennen, von der er, so erzählt man sich jedenfalls, insgesamt schon sechzehn Kinder hatte.«
»Sechzehn, ein fruchtbarer kleiner Mann!« Morten stieß einen anerkennenden Pfiff aus, der in Paulas Ohren schrill klang und sich auf das falsche Detail ihrer Ausführungen stürzte. Nie dachten Männer daran, was es bedeutete, so viele Geburten durchzustehen. Sechzehn! Sie fühlte sich wieder in ihrer Entscheidung bestätigt, nie wieder das Lager mit einem Mann zu teilen, zu hoch war der Preis, den man später dafür zahlen musste. Morten begriff wohl nicht, was für ein Mann das war, der sechzehn Kinder für seinen Ehrgeiz opferte.
»Der Premier ist nicht nur fruchtbar, sondern auch ein kluger Taktiker, oder glaubt hier irgendjemand, dass er wirklich dem christlichen Glauben anhängt?« Morten hatte während ihrer Unterhaltung seine Bibel herausgekramt und blätterte nun darin. »Für mich ist er nur ein elender Pharisäer.«
»Der Mann macht mir Angst.« Paula war selbst überrascht, dass sie laut gesprochen hatte, und zu ihrer großen Verwunderung lachten die anderen sie nicht aus.
»Warum?«
»Ich glaube, er ist sehr eitel und würde alles tun, um seine Position zu festigen.«
»Da stimme ich Ihnen zu«, Villeneuve lächelte, »aber Sie ziehen die falschen Schlüsse, denn eitle Männer stellen keine Gefahr dar.«
Paula sah von einem zum anderen, und alle drei nickten, als wären sie selbst nicht die Spur eitel, was Paula zum Lachen gebracht hätte, wenn sie nicht so besorgt gewesen wäre. »Warum sind sie keine Gefahr?«
»Weil man sie leicht hinters Licht führen kann. Sie wollen recht behalten, sie wollen der Klügste sein …«
Klingt, als spräche Villeneuve von sich selbst, dachte Paula und biss sich auf die Lippen.
»… und sie halten sich für gut aussehend. Damit kann man spielen.«
Lázló und Morten nickten zustimmend.
»Das gilt doch nur für dumme, eitle Männer, aber ich halte den Premierminister für klug.«
»Ich verstehe gar nicht, warum wir dieses Gespräch führen. Wir sind wohlwollend aufgenommen worden, und nun nutzen wir unsere Chance und reden mit der Königin.« Lázló hob fragend die Hände. »Paula, Sie wittern hinter jeder Ecke Gespenster.«
»Das stimmt.« Villeneuve sah zu Morten, dann zu Paula.
»Es kommt mir so vor, als ob ich die Einzige wäre, die wenig Erfahrung mit dem Lügen hat.«
»Lügen sind nur eine andere Sicht der Wahrheit.« Lázló grinste breit. »Auch wenn der deutsche Kaiser noch nichts von uns weiß – nur einmal angenommen, wir brächten ge nau die Pflanzen mit, die man in Europa so dringend braucht, um die Schwindsucht zu besiegen, an der übrigens mehr Menschen sterben als durch Kriege, Pest oder Cholera, dann wäre er der Erste, der sich unsere Verdienste auf seine Fahne schreiben würde.«
Morten und Villeneuve nickten in seltener Eintracht dazu.
»Heute Abend sollte es uns jedenfalls gelingen, den Eindruck zu erwecken, wir wären Gesandte«, sagte Villeneuve, der damit begann, seine Stiefel für das Festessen zu polieren.
»Ich werde mich von meiner besten Seite zeigen.« Lázló lächelte sie alle an. »Und nur dezent wie ein kaiserlicher Gesandter mit der Königin flirten.«
Danach saßen sie schweigend beisammen. Jeder hing seinen Gedanken nach, bis Noria sie am frühen Abend zum Essen mit der Königin abholte.
»Ich habe vorhin etwas Wichtiges vergessen, und ich denke, Sie waren zu aufgeregt, um es zu bemerken. Aber jetzt werden Sie ja einen ganzen Abend mit dem
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